Primrue Mellark | Kapitel 30

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Die Tage vergingen, ohne das ich es wirklich mitbekam. Meine Eltern unterstützten mich so gut es ging, und ich sie ebenfalls. Manchmal schafften wir es sogar, über etwas zu lachen, aber irgendwann merkten wir immer, dass etwas fehlte und wir verstummten. Ich ertappte mich oft dabei, wie ich einfach nur auf die Tür starrte und hoffte, dass Haymitch hereinkam.
Oder Dillian.
Manchmal, meistens wenn ich nachts wach lag, hatte ich das Gefühl ihre Stimmen zu hören, sie zu fühlen, als würden sie neben mir liegen. Als wären sie nicht weg. Alles nur ein Irrtum des Kapitols.
Erst mit der Zeit, als der Schock etwas verschwand, merkte ich, wie sehr ich auch ihn vermisste. Ich hatte ihn geliebt, das wusste ich jetzt und ich wünschte wir hätten mehr Zeit gehabt. Oft hatte ich mich dabei ertappt, wie ich gedankenverloren mit seinem Ring gespielt hatte und mir überlegte was leichter wäre. Ihn vergessen oder die Erinnerung erhalten.
Mittlerweile trug ich den Ring am Finger. Er passte, als wäre er für mich gemacht worden. Vergessen konnte und wollte ich ihn nicht. Nicht unsere gemeinsamen Tage.
Ich verfluchte den Präsidenten, war wütend auf ihn, dass er mir beide genommen hatte.
Der Mörder war immer noch auf freiem Fuß. Und für die Unfähigkeit der Soldaten mussten wir bezahlen. Ich wusste nicht wie es in den anderen Distrikten zuging, aber ich hörte das Murmeln, dass er durch die Reihen der Leute hier ging. Die Menschen waren unzufrieden und fanden die Idee einen Beraterstab aus Distriktmenschen einzuführen gut. Dabei hatte ich nur in meiner Wut, das gesagt, was die Kaptiolbewohner wohl als beschämensten finden würden.
Wenn es also selbst hier, in dem Distrikt, der immerhin noch vier lebende Gewinner hatte schon so zuging, was war dann in den anderen los?
Ich traute mich nie, Cato zu fragen. Wir telefonierten. Am Anfang waren es nur kurze Gespräche, die eher daraus bestanden, das er nur kurz fragte, wie es mir ging und ich jedes mal mit einem "Gut" antwortete. Irgendwann änderte sich das aber. Ich fing an ihn die Wahrheit zu sagen. Wir sprachen lange, auch wenn er meistens den Part des Fragenden einnahm. Er würde mir mehr über sich verraten wenn er wollte. Ich würde ihn nicht zwingen. Was sich jedoch nie änderte, war die Art wie unsere Gespräche endeten. 
"Und? Warst du endlich dort?", fragte er immer leise. Cato meinte das Grab. Das Grab meines kleinen, viel zu jungen Bruders. Nie antwortete ich drauf, doch das war Antwort genug für ihn. Manchmal hörte ich ihn noch seufzen, bevor er auflegte. Nach unseren ersten Telefonat, hatte ich Angst gehabt, dass er danach nicht mehr anrufen würde, aber er tat es.
Ich war noch nie dort gewesen. Es würde alles nur endgültig machen. Mir vor Augen führen, dass er wirklich nicht mehr da war.
Also einfach dem Friedhof fern bleiben.
Problem gelöst.
Zumindest wenn es nach mir ging. Aber anscheinend sah Cato das anders.
Eines Tages, ich wusste nicht einmal genau wie viele Tage oder Wochen ich schon wieder zuhause war, klopfte es an der Haustür.
Nichts ahnend ging ich runter und öffnete. Um in Catos wütendes Gesicht zu starren.
"Du warst noch immer nicht dort.", brummte er mich an und ich brachte nur ein verwirrtes "Was?", heraus.
"Heute vor genau zwei Monaten ist dein Bruder in der Arena gestorben und du warst noch immer nicht bei seinen Grab."
"Oh.", brachte ich nur wieder vor.
"Oh.", echote Cato und nahm meine Hand. Ohne mich zu fragen ging er los, auch wenn ich versuchte mich dagegen zu wehren. Wahrscheinlich wäre es leichter gewesen mit einen Bären zu ringen.
"Warte... Ich.. Wo willst du hin?", stammelte ich vor mich hin, während ich hinter ihm her stolperte.
"Dreimal darfst du raten." Ich wehrte mich nach seiner Antwort noch stärker gegen ihn und schrie: "Warum tust du mir das an? Ich komme langsam klar und du willst alles wieder kaputt machen! Warum?"
"Weil eben nicht alles klar ist", fuhr er mich an und wirbelte herum, auf einmal ganz nah vor mir. Seine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen als er leise, aber gefährlich fortfuhr: "Denkst du, dass mir das Spaß macht? Denkst du ich finde es toll dir das hier anzutun? Einer muss es machen! Deine Eltern sind nicht stark genug und ich verstehe das sogar. Aber noch einmal schaue ich nicht dabei zu. Ich kann nicht zulassen dass du so wirst wie sie!"
Ich schaute ihn verwirrt an und wollte gerade fragen, wen er meinte, als es mir selber kam. Seine Mutter. Die sich eingeredet hatte Cato würde noch leben, immer noch in der Arena sein und zu ihr zurück kommen.
Cato hatte Recht.
Wie oft habe ich darauf gewartet sie zu sehen? Wie oft hatte ich sie gehört?
Betroffen schaute ich zu Boden. Catos Blick war nicht mehr so wütend, eher ängstlich.
"Bitte Primrue", sagte er fast zärtlich, etwas was ich noch nie an ihm erlebt hatte, aber ich hatte schon seit einer Weile gemerkt, dass sein wahres Ich nicht nur dieser immer aggressive und arrogante Mensch war. "Ich schaff das nicht nochmal. Nicht nachdem ich die dort drin gesehen habe. Gesehen hab wie du deinen kleinen Bruder beschützt hast, sterben wolltest, und trotzdem raus gekommen bist. Wie du überlebt hast."
Ich ließ seine Worte auf mich wirken und auch wenn ich Angst hatte, nickte ich. Es war Zeit mich von dem Vergangenen zu verabschieden und nach vorn zu schauen.
"Kommst du mit mir?", fragte ich fast ängstlich. Ich war mir nicht sicher ob ich es alleine schaffen würde. Doch Cato nickte zustimmend.
"Komm", sagte er aufmunternd und ging los. Gerade als er meine Hand loslassen wollte, griff ich schnell wieder danach. Kurz schaute er mich mit zusammengekniffenen Augen an, als hätte noch nie jemand nach seiner Hand gegriffen und er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Aber er schüttelte mich nicht ab. Im Gegenteil. Auch wenn er nichts sagte, griff er seinerseits ebenfalls wieder zu.
So gingen wir gemeinsam Richtung Friedhof. Ich wusste, wo das Grab war. Er war unter einen Baum begraben worden, da er es immer am meisten geliebt hatte zu klettern.
Mit jedem Meter, den wir seinen Grab näher kamen, wurden meine Schritte langsamer. Cato passte sich mir an. Solange ich nicht weglaufen würde, würde er mich nicht zwingen.
Wenige Meter vor davor blieb er stehen und ließ mich allein weitergehen. Ich wusste aber, dass er da war und nicht verschwinden würde. Das half.
Mit zitternden Beinen kniete ich mich vor das Grab. Eine Weile starrte ich es nur an bevor ich leise flüsterte: "Hallo Krümel. Ich habs geschafft. Entschuldige, dass ich erst jetzt komme aber ich war beschäftigt." Ich lachte leise, "Was sag ich da. Ich hatte versprochen dir immer die Wahrheit zu sagen nicht wahr? Ich hatte Angst. Wollte das hier nicht sehen. Einfach weiter dran glauben, dass du wiederkommst aber langsam muss ich damit aufhören. Es tut mir Leid, dass ich mein Versprechen dir gegenüber nicht gehalten habe." Eine Weile starrte ich das Grab durch tränen-verhangene Augen an. Es war noch nicht alles gesagt. Ich fühlte mich nicht besser, aber sie wollten einfach nicht herauskommen. Dann spürte ich Catos Hand auf der Schulter, als wenn er gemerkt hätte, dass ich ihn bräuchte und auf einmal sprudelten die Worte leise aus mir heraus. Die Worte die ich so fürchtete: "Ich vermisse dich so sehr, Krümel! Ich weiß nicht wie ich ohne dich leben soll. Ich hab nie darüber nachgedacht. Du warst doch meine Sonne, die Sonne von Allen. Wie soll ich diese Lücke füllen? Jeden Morgen wache ich auf und wünsche mir, noch einmal dein Lächeln zu sehen. Ich weiß, dass das nicht geht. Dass du weg bist und nicht mehr wiederkommst. Aber es tut so verdammt weh."
Endlich war es gesagt und es fühlte sich befreiend an. Er war weg, genau wie Dillian. Sie würden nicht wiederkommen und es brachte mir nichts, auf sie zu warten. Ich musste weiter machen.
"Ich weiß nicht wie, Cato. Ich weiß nicht wie ich weitermachen soll.", gestand ich ihm, als ich mich wieder vom Grab erhob. Er lächelte mich wehmütig an.
"Dann sind wir ja schon zu zweit aber vielleicht finden wir es raus. Zusammen."
Wenn mir jemand vor drei Monaten gesagt hätte, das ich eine kleine Therapiegruppe mit Cato gründen würde, hätte ich ihn ausgelacht, aber jetzt klang das gar nicht so schlecht.
"Wie willst du das anstellen? Distrikt 2 ist nicht gerade um die Ecke.", fragte ich ihn und er tat so als würde er überlegen.
"Naja, ist ja nicht so das ich an meinem Distrikt hänge.", erklärte er, "Vielleicht tut mir selber auch mal ein Klimawechsel gut."
Gemeinsam gingen wir zurück. Auch wenn ich noch etwas aufgewühlt war, fühlte ich mich besser. Ich sah nicht nur die Sonne, sondern spürte auch endlich wieder die Wärme der Strahlen in meinem Gesicht. Alles wirkte nicht mehr grau in grau, sonder ein wenig farbiger.
Auch die Person die die Straße zum Siegesviertel hinaufkam. Ich blieb stehen und versuchte etwas gegen die Sonnenstrahlen sehen zu können. Die Gestalt war zu groß für meinen Vater, ja sogar für Haymitch aber normalerweise ließen uns die Leute aus dem Distrikt in Ruhe. Wir kamen zu ihnen wenn wir etwas wollten. Das war eine unausgesprochene Regel.
Ich nutzte meine Hand gegen die Sonne und konnte dunkles, kurzes Haar erkennen, gebräunte Haut und graue Augen, die mich zu erkennen schienen. Auch ich erkannte sie. Ich hatte die Person schon einmal gesehen, auf alten Bildern und im Fernseher.
Gale.
Ich wusste nicht was ich tun sollte. Verspürte ich Angst? Wut? Beides? Was wollte er hier?
"Cato kannst du..."
"deine Eltern vorwarnen, dass ihr ehemaliger Freund und der Vater des Zweitplatzierten hier ist?", beendete er meinen Satz und verschwand schon in Richtung unseres Hauses.
Ich wartete bis Gale herangekommen war. Er war sogar noch größer als Dillian und ich musste meinen Kopf in den Nacken legen um zu ihn aufschauen zu können. Sein Blick verfolgte jedoch Cato.
"Ich vermute mal ich werde angekündigt?", beobachtete er richtig. Sein Blick wandte sich zu mir und ich versuchte nicht ängstlich zusammenzuzucken. Die Jahre bei der Armee und die Position die er dort inne hatte, hatten ihn eine natürliche Autorität gegeben. Ich wäre jedoch nicht die Tochter meiner Mutter, wenn ich nicht trotzdem stur bleiben würde und auf diese Darstellung von Hierarchie nicht reagieren würde.
"Hast du was anderes erwartet?"
"Nein", antwortete er und lächelte leicht. Das war schon besser und angenehmer, auch wenn das Lächeln nicht seine Augen erreichte. Er war wirklich abgestumpft und emotionslos. Wir starrten uns an und das Schweigen war unangenehm, also musste ich etwas sagen.
"Tut mir leid wegen Dillian.", murmelte ich und das Lächeln verschwand wieder.
Ups. Das war ja schwieriger als durch ein Minenfeld zu laufen.
Unsicher strich ich mir die Haare hinter das linke Ohr und Gales Augen blieben an meiner Hand hängen. Ich verstand nicht warum, aber etwas in seinen Blick veränderte sich, wurde weicher.
"Ja, mir tut es auch leid.", flüsterte er und streichelte mir über den Kopf. Mich verwunderte wie so große Hände gleichzeitig so sanft sein konnten und ich verstand warum meine Mutter sich immer sicher bei ihm gefühlt hatte.
"Gale", vernahm ich leise ihre Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehte, musste ich mir fast ein absurdes Lachen verkneifen, zu absurd war das Bild. Meine Eltern waren aus dem Haus getreten. Mein Vater, dicht hinter meiner Mutter, schützend die Arme auf ihre Schultern gelegt und neben ihm Cato mit einem Gesicht, dass klarmachte, das Gale lieber keinen Ärger machen sollte, sonst würde er ihn persönlich in seinen Distrikt zurück prügeln. Es wirkte als würde er dort hingehören. Als wäre er schon immer dort gewesen.
"Versprich mir, dass du ihn nicht vergisst, egal was passiert.", wandte sich Gale noch einmal an mich.
"Niemals.", erwiderte ich ohne zu zögern. Er nickte und ging dann an mir vorbei. Kurz bevor er bei meinen Eltern angekommen war, trat mein Vater vor und verstellte Gale den Weg. Sie sahen sich an. Sprachen nicht, schauten einander nur an. Ohne eine Miene zu verziehen, schlug mein Vater nach einer Weile auf Gales Schulter und machte den Weg frei, indem er zu mir kam. Auch Cato ging ein wenig weg und wandte sich ab, blieb aber nah genug, dass er schnell genug bei meiner Mutter sein würde wenn etwas wäre. Sie schien nichts dagegen zu haben und auch mein Vater war gelassen, als er auf mich zukam. Ich würde zu gerne wissen worüber sie noch geredet hatten, da drin.
Peeta nahm mich in den Arm und gab mir einen Kuss auf den Kopf. Ich kuschelte mich an ihn und seufzte selig.
"Na, alles okay?", fragte er leise.
"Nein, aber es wird schon.", antwortete ich.
"Cato möchte hier bleiben.", erklärte mein Vater. "Wir haben ihm angeboten, dass er mein Haus haben kann. Nachdem wir nun drei Häuser haben."
Zusammenstehend schauten wir zu den anderen. Wir konnten nicht hören was sie sagten, konnten sie nur sehen. Es dauerte eine ganze Weile und ich wurde leicht nervös um so länger das Gespräch dauerte.
"Denkst du er entschuldigt sich?"
"Ich hoffe es.", erwiderte Peeta und ich wünschte es mir auch.
"Dillian hätte das gewollt. Er wollte immer, dass er herkommt und sich entschuldigt. Dass sie sich aussprechen. Aber er war immer zu stur."
In dem Moment ging Gale in die Knie und klammerte sich regelrecht an meine Mutter. Auch ihr liefen Tränen über die Wangen, doch sie hielt ihn und streichelte sanft über seine Haare. So als wäre er ein kleines Kind das getröstet werden müsste.
Cato entfernte sich von den beiden, sicher das meine Mutter ihn wohl nicht mehr brauchen würde und kam grinsend auf uns zu.
"Scheint so als wäre Dillians Wunsch in Erfüllung gegangen.", prophezeite er und mir kamen schon wieder die Tränen, wenn auch eher aus Freude. Vielleicht war unser Kampf ja doch nicht vollkommen umsonst gewesen.
"Geht das hier immer so zu?", fragte Cato an meinen Vater gerichtet, "Ich mein die ganzen Umarmungen und so."
"Du gewöhnst dich dran", sagte mein Vater. Zwar sagte Cato dazu nichts, aber sein Gesicht sprach eher vom Gegenteil.
Niemand sprach darüber, was genau Gale zu Katniss gesagt hatte, aber sie nährten sich langsam wieder an und auch mein Vater versuchte wieder mit ihm ins Gespräch zu kommen. Es war seltsam am Anfang, aber alle bemühten sich. Selbst Haymitch, der Gale bei sich aufgenommen hatte, da er behauptete, dass es alleine sowieso langweilig war.
Sie schienen gegenseitig auf einander aufzupassen. Gale, das Haymitch nichts trank und Haymitch half ihm im Gegenzug über den Tod seines Sohnes hinwegzukommen.
Cato und ich versuchten das Gleiche. Er hatte das Angebot meiner Eltern angenommen und auch wenn ihn die meisten aus dem Distrikt seltsam ansahen, schien es ihm hier zu gefallen. Er musste nicht mehr eine Rolle spielen. Dem entsprechen, was sein Vater gewesen war. Wir hatten wiedereinmal einen Deal ausgehandelt. Er erzählte mir von seiner Kindheit, ich dafür von meinen Ängste und Alpträumen. Zusammen versuchten wir herauszufinden, was wir mit unseren Leben anfangen sollten.
Gale und ich redeten nicht viel mit einander, aber immer wieder fiel sein Blick auf meine Hand und dann lächelte er mich an. Langsam strahlte es auch wieder in seinen Augen.
Mittlerweile verstand ich, was er sah, etwas was für mich schon normal geworden war, dass ich es gar nicht mehr merkte, dass ich es trug.
Dillians Ring. Der Ring seiner Frau.
Ja, wir versuchten alle, wieder ins Leben zurück zu finden. Haymitch, Mom, Dad, Gale, Cato und ich. Zusammen würden wir es schaffen.
Einfach Stück für Stück.

Ende Teil 1

Teil 2: Primrue Mellark 2 | Ungewolltes Schicksal - http://www.wattpad.com/story/19788964-primrue-mellark-2-ungewolltes-schicksal

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