If one day had 48 hours

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Der Herbst war in New York eingekehrt. Die Sonne stand bereits tiefer zwischen den Wolkenkratzern und umhüllte die grauen Häuserfassaden mit einem goldenen Schimmer. Der Central Park schillerte in unzähligen rotbraunen Farbtönen und ludt unzählige New Yorker und Touristen zum verweilen ein. Aufgrund des milden, sonnigen Herbsttages, hatte Louise sich entschlossen nach ihrem Lunch Termin mit Peter, dem Vertriebsleiter der Ward Brothers & Co. zu Fuß zurück ins Büro zu laufen. Den kleinen Schlenker durch New Yorks grüne Oase gönnte sie sich mit ihrem frisch gebrühten Flat White im To Go Becher. 

Sie hatte in den letzten Wochen sehr viel Zeit für die Formalitäten in Sachen Pierce Brown und die Vorbereitung auf das Weihnachtsgeschäft geopfert. Pierce neuestes Buch sollte pünktlich zur sehr frequentierten Weihnachtssaison Ende November erscheinen. Hier hatte Louise, gemeinsam mit der PR- und Marketingabteilung Konzepte für eine Pressetour durch die USA erarbeitet, um nicht nur sein neues Buch vorzustellen, sondern auch gleichzeitig die künftige Zusammenarbeit zwischen Pierce und dem Ward Brothers & Co Verlagshaus zu verbreiten. Dies bedeutete für Louise nicht nur noch mehr Arbeit, sondern auch einen Reisemarathon zur Weihnachtszeit und unzählige, öffentliche Pressetermine. Nebenher musste Louise gemeinsam mit dem Sales Team ebenfalls noch viele Verhandlungen mit Buchhändlern und Handelsketten über den sogenannten "Christmas Book Sale" führen. Welche Bücher waren geeignet als Geschenk unterm Weihnachtsbaum, welche kamen für den Sonderpreis in Frage und wie konnten sie die Verkaufszahlen der von Ward Brothers verlegten Bücher in diesem Jahr noch weiter steigern? Das letzte Quartal eines Jahres war immer eine heiße Phase im Verlagswesen - bei Ward in diesem Jahr noch getoppt durch die Aufnahme ihres neuen Schützlings und Superstars. Für Louise hatte der Erfolg die Konsequenz, dass sie durchgängig von Montag bis Sonntag mit arbeiten, verhandeln, reisen, planen, konzipieren, telefonieren und mailen beschäftigt war. Etwas, dass sich niemand erträumen würde es durchzuhalten. Louise fühlte sich mit ihrer Arbeit nicht nur der Familientradition verpflichtet, sie liebte ihren Job, der sie so sehr erfüllte.

An diesem sonnigen Freitag im Oktober, als sie mit ihrem Kaffee durch den Central Park schritt, die warme Herbstluft einatmetete und die Menschen beobachten konnte, die ihr Leben genossen, fühlte sie sich das erste Mal seit langem ein wenig müde. Viel zu selten gönnte Louise sich kurze Momente zum Durchatmen und nahm sich Zeit für sich. Viel zu groß war die Verpflichtung, die sie ihrer Firma gegenüber fühlte und, auch wenn es widersprüchlich klang, sie liebte ihre wertvolle und wichtige Familienaufgabe. Die letzten Stunden, die sie für sich genoss, waren während der Zwangspause die Onkel Richard ihr nach dem Abschluss des Deals mit Pierce und Kellerman aufgezwungen hatte. Diese wunderbaren zwei Stunden bei Sally, der sehr nette Abend mit Joy bei Sushi und Drinks und die sieben Stunden Schlaf in ihrem eigenen Bett. Louise schlief wenig, viel zu wenig. Es gab Tage und Wochen, da schlief sie zwei, maximal drei Stunden im Morgengrauen. In den sieben Jahren, die sie nun als Teil der Geschäftsführung bei Ward arbeitete, lud sie sich so viel Verantwortung und Zielstrebigkeit auf ihre Schultern, dass sie sich manchmal wünschte, der Tag hätte 48 Stunden. Um aber noch effizienter zu sein und noch mehr zu schaffen, polte Louise in den Jahren ihren Körper so lange, dass sie manchmal sogar Tage ohne Schlaf auskam. Müdigkeit machte sich selten in ihr breit, viel zu groß war die Verantwortung, die in ihr Schlummerte. 

Schlaf war überbewertet. Ihr Körper rebellierte jedoch zunehmend, gegen den regelmäßigen Schlafentzug, sodass Louise in den letzten Monaten vermehrt feststellte, dass sie an ihrer Produktivität verlor, was dazu führte, dass sie sich noch mehr Schlaf entzog, um alles zu schaffen. Ein Freund der Familie, und alter Schulfreund ihres Vaters, der Louise gelegentlich als Arzt behandelte, hatte ihr während der Verhandlungsphase mit Kellerman, die sehr stressig und langwierig war, für den absoluten Notfall Adrafinil empfohlen. Das Medikament wird in der Regel bei narkoleptischen Erkrankungen angewendet und konnte gelegentlich die natürlich aufkommende Müdigkeit eindämmen. Louise hatte die Tabletten in letzter Zeit häufiger angewendet, als ihr insgeheim lieb war. Der Druck war immens groß und ihre Erwartungshaltung dafür aber noch größer. Sie hatte das Gefühl, sie würde sonst nicht hinterher kommen. Umso schlechter fühlte Louise sich an diesem Tag, an dem sie durch den Central Park schritt und ihre aufkommende Müdigkeit tief in sich drin aufkommen spürte. Ihre Beine waren ein wenig wackelig, die Augenlider schwer und selbst der köstliche Flat White schien seinen Dienst an diesem Nachmittag nicht so sehr zu erfüllen wie sonst. Louise hoffte, der kleine Spaziergang in der warmen Herbstluft würde ihre Geister wieder zum Leben erwecken. Sie versuchte krampfhaft, und für sie ungewöhnlich, die dienstlichen Gedanken ein wenig beiseite zu schieben, und ihren Kopf mit anderen Dingen zu füllen, in der Hoffnung, dass dies ihrem Gemüt half. Sie fuhr sich mit ihrer linken Hand durch die Haare, die leicht in der herbstlichen Brise wehten. Sie waren strohig und hatten lange keine ordentliche Feuchtigkeitspflege mehr gehabt. Automatisch dachte sie wieder an ihren Spontantermin bei Sally. Wie gut hatte sie sich danach gefühlt - der ganze Tag war so ungewöhnlich gewesen, ungewöhnlich schön. Louise versuchte sich an das Gefühl zu erinnern, wie sie am Morgen danach entspannt um 07:30 aufstand, sich streckte, ausgiebig duschte und zum Flughafen fuhr.

If we meet again... [Wattys 2018 Longlist]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt