Sylvie öffnete den Geigenkasten und packte das Leihinstrument aus, das ihr Karina, einfach so im Handumdrehen organisiert hatte. Sie stellte sich an das Klavier, ein Pianino, an der einen Wand des vergleichsweise groß bemessenen Proberaums, und nahm es zu Hilfe, um die einzelnen Saiten zu stimmen. Sie spielte die jeweiligen Töne an und drehte solange an den Feinstimmern der Violine, bis die Tonhöhe passte. Sie versuchte sich zuerst an Tonleitern in verschiedenen Tonarten, es folgten ein paar technische Übungen und nach und nach ging sie dazu über, diese zu variieren, zu Melodien umzuformen und einfach frei zu improvisieren.
Sie wollte das Instrument und dessen Klang besser kennen lernen und stellte schnell fest, dass es eine absolut fabelhafte Violine war. Es war eine wahre Freude darauf zu spielen und sie lag ihr fast so gut in der Hand, wie ihre Eigene. Karina war wirklich ein Organisationsgenie und fast kam es Sylvie so vor, als hätte das alles ein wenig zu gut geklappt. Als hätte Karina von Anfang an geplant Sylvie zum Violinspielen zu bringen. Andrerseits war es an einer Musikuniversität vermutlich keine Kunst eine brauchbare Violine zu aufzutreiben.
Ihre Eigene hatte Sylvie ganz bewusst daheim gelassen. Einen Moment lang hatte sie daran gedacht sie mitzunehmen, es dann aber vorgezogen, das Musizieren den anderen zu überlassen. Als ob sie dazu je im Stande gewesen wäre. Sie hatte jedenfalls nicht vor sich hier an Auftritten zu beteiligen. Nein, nein, das Rampenlicht konnten die anderen für sich haben. Aber einfach so mit Karina ein paar Duette probieren, vielleicht gemeinsam etwas improvisieren. Das machte bestimmt Spaß, und was konnte es denn schaden. Sie hatte das Improvisieren während der letzten Jahre sehr zu schätzen gelernt und manchmal schrieb sie sogar ein paar Noten auf. Der Gedanke, das zu tun war ihr während ihrer aktiven Zeit nie gekommen. Sie hatte das übliche Repertoire so gespielt, wie man es von ihr erwartet hatte, nur besser. Je schwieriger das Stück, desto eher hatte es sie angelockt.
Eine Zeitlang war ihr das Lebenszweck genug gewesen, doch irgendwann hatte ihr auch das nicht mehr gereicht. Mit Fünfundzwanzig hatte sie im Grunde vieles von dem erreicht gehabt, was sie sich für ihr Leben vorgestellt hatte. Es wurde immer schwieriger neue Ziele zu finden, dafür ließen sich die Schmerzen in den Schultern kaum noch ignorieren und immer öfter verkrampften sich ihre Hände an den vertrackten Stellen, sodass sie kaum noch weiterspielen konnte. Schließlich hatte ihr der Musikerarzt, von dem sie sich einfach nur irgendein möglichst wirksames Medikament erwartet hatte, ein Zwangspause verordnet. "Wenn Sie ihre Hände jemals wieder für das Violinspiel verwenden wollen ..."
Am Anfang hatte sie sich gefühlt wie ein Fisch auf dem Trockenen. Irgendwie fehl am Platz, egal was sie tat. Ihr war überhaupt nichts eingefallen, was sie mit sich anfangen sollte, außer Geige zu spielen. Sie hatte die Stadt für ein paar Wochen hinter sich gelassen und das Sommerhaus von Freunden gehütet. Auf einer einsamen Insel im Kattegat, wo es außer Meer und Schafen nicht viel gab. Dort war der Druck nach und nach von ihr abgefallen und sie hatte begonnen klarer zu sehen. Sie hatte plötzlich die Zeit gehabt, um über alles mögliche nachzudenken. Und irgendwann, auf einem dieser langen Spaziergänge, hatte sich ein Gedanke eingeschlichen: Dass dies womöglich der Moment war, um zu neuen Ufern aufzubrechen. Sich ganz neue Herausforderungen zu suchen. Sie hatte begonnen sich an all die Dinge zu erinnern, die sie auch noch interessierten. Dieses verrückte Leben als Violinsolistin hatte sie einige Jahre lang mitgemacht und nun konnte sie sich immer weniger vorstellen, das ihr ganzes Leben lang fortzusetzen. Abgesehen davon, wer wusste schon wie lange ihr Körper den Wahnsinn wirklich noch mitmachte. Zuerst hatte sie ihre Zwangspause nur dafür nutzen wollen, sich zumindest einen Plan B zurechtzulegen.
Durch dieses Basteln an Plan B und das Zeitungspraktium als Teil davon, hatte sie Vincent kennen gelernt und damit hatte sich eins ums andere ergeben. Und nun schien es als näherte sich auch ihr Bruder immer mehr diesem Scheideweg. Die Entscheidung konnte sie ihm nicht abnehmen und sie würde sich hüten ihm irgendwas einzureden. Aber sie konnte da sein und ihn auffangen, falls das nötig wurde. Oder wenn er jemanden zum Reden brauchte. Immerhin hatte sie das alles bereits selbst durchlebt. Aber vermutlich war das etwas, das er mit sich selbst ausmachen musste. Es war die Art von Fragen, die jeder mit sich selbst ausmachen musste.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Ficção GeralManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...