Er war Verrückt.
Eine Unterschrift und ein Stempel auf einem perlweißen Papier stellten es unwiderlegbar fest.
Lucas nahm dass etwas dickere Blatt Papier und besah es sich durch die eckigen Gläser seiner Brille genauer. Auf dem Papier gab es mehr Kleingedrucktes zu lesen als das Wesentliche. Er würde verlegt werden. Auf die Geschlossene Abteilung. Warum? Lucas wusste es nicht, aber die Ärzte in diesen Einrichtungen gaben sich selbst immer die besten Gründe.
Er merkte wie sein Pseudotherapeut vor ihm ungeduldig mit den Fingern zu knacken begann. Und da hieße es, er selbst hätte Ticks.
Das Papier fühlte sich warm zwischen seinen Fingern an. Der Drucker hatte es gerade erst frisch ausgespuckt. Am liebsten hätte Lucas es zerrissen und in den polierten Mülleimer neben ihm geworfen. So wie die anderen Atteste zuvor.
Es waren schon viele gewesen; mit 9 Jahren wurden bei ihm zum ersten mal „Verhaltensauffälligkeiten", wie sie es nannten, diagnostiziert. Verhaltensauffälligkeiten. Nur weil er, wie die Erwachsenen es nannten, „zu ruhig" für sein Alter war. Weil er nicht mit den anderen Kindern spielen wollte. Und dann waren da auch noch seine Wutausbrüche gewesen. Mit 11 Jahren bekam er die Diagnose „Verhaltensstörungen". Nur weil er nicht angefasst werden wollte. Aber wenn der sonnst so nette Onkel ihn an verbotenen Stellen anfasste, und ihn bei ihm dasselbe tun lies, wie sollte er da angenehme von unangenehmen Berührungen unterscheiden. Alles wurde unangenehm.
Doch mit dieser Diagnose war für die Erwachsenen erstmal alles geklärt. Und weiterhin wurde er jedes 2. Wochenende zum Onkel gebracht.
Bis dieser 1 Jahr später verstarb. Lucas war der einzige gewesen, der nicht getrauert hatte. „Merkwürdig" nannten sie ihn. Doch warum sollte er um einen Mann trauern, der ihm seinen Körper gestohlen hatte um dessen eigene Fantasien zu befriedigen. Die angstvollen, mit Tränen genässten Kinderaugen in denen soviel Unschuld war, waren mit einem Tuch verbunden worden. Angsterfüllt hatte er in der Dunkelheit auf den Schmerz gewartet.
Mit 16 Jahren wurden bei ihm Depressionen diagnostiziert. Endlich, dachte er. Endlich wird es jetzt besser.
Mit einem Rezept für drei verschiedene Antidepressiva war er in die nächste Apotheke geschickt worden. Die sonst so nette Dame hinter dem Tresen hatte ihn ganz anders angesehen.
Nachdem die Tabletten wie Drogen wirkten und ihm halfen jegliche negative Gefühle auszublenden, war auch dieses Thema für seine Mitmenschen geklärt.
Die Tabletten waren nicht auf ihn abgestimmt gewesen.
Nun saß Lucas erneut einem Mann mit strengem Blick gegenüber, seine Hände zitterten.
Er wollte dort nicht hin. Wieso übersahen die Menschen das Wesentliche. Er hatte keine Verhaltensstörungen. Er konnte körperlichen Kontakt einfach nicht ertragen. Zu sehr erinnerte es ihn an die rauen Hände die ihn überall an seinem Körper berührt hatten, an den Geschmack der Bitter-Süßen, schleimigen Flüssigkeit in seinem Mund die er am liebsten wieder ausgespuckt hätte. Lucas schauderte. Eine kalte Welle rollte seinen Rücken hinunter, ihm wurde übel und seine Nackenhaare stellten sich auf. Er wollte nicht wieder Anderen ausgeliefert sein. Er wollte nicht dass sein Leben erneut von Anderen bestimmt wurde.
Lucas Blick haftete auf der Diagnose die ihm auf dem Papier dargeboten wurde: Schizophrenie.
Aber er hatte keine Schizophrenie. Er hatte den Ärzten nur von den Stimmen in seinem Kopf und den manchmal tagelangen Gedächtnislücken erzählt.
Doch die Stimmen in seinem Kopf waren keine Halluzinationen.
Sie gehörten Jake, Dennis, der kleinen Lucy, Lennard, Kathrin, Alex und Ben. Sie alle lebten in einem Körper. Seinem Körper. Die Gedächtnislücken stammten aus den Zeiten, in denen ein anderer die Kontrolle über seinen Körper hatte. Nur dadurch dass er jemand anderem den Körper hatte übergeben können, hatte er den Schmerz ertragen können.
Eine warme Hand legte sich von hinten auf Lucas Schultern und schreckte ihn aus seinen Gedanken auf.
Durch die Berührung zog sich alles in ihm zusammen und er begann am ganzen Körper zu Zittern.
Doch die Diagnose lautete Schizophrenie.
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Short StoryWie schnell doch eine Diagnose gestellt wird, ohne die verdeckten Hintergründe zu hinterfragen