Erzählung 84

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„Hände nach vorne", befahl sie und legte mir zwei breite Ledermanschetten an, die sie mit etwas verband, das aussah wie ein schmaler Karabinerhaken. Ich schaute ihr dabei zu wie sie die Schnallen überprüfte und mir dann mit einer knappen, doch bestimmten Kopfbewegung nach oben klarmachte, dass ich meine Arme in die Luft strecken sollte. Als ich meine Arme durchstreckte spürte ich wie meine Finger den kalten Metallhaken streiften. Ohne zu reden umgriff Eva meine Oberarme und drückte sie ein wenig nach rechts und nach hinten. Dann zog sie leicht und ich spürte wie der Karabiner zwischen meinen Fesseln in den Haken rutschte. Meine Arme nur leicht gebeugt hätte ich sie vermutlich einfach nur durchstrecken müssen um mich zu befreien, doch an die Konsequenzen dafür wollte ich erst gar nicht denken. Also blieb ich einfach stehen und beobachtete wie Eva zu meinem Bruder ging und ihm ebenfalls Ledermanschetten anlegte. Ohne ein für mich sichtbares Zeichen hob Chris seine Arme und Eva half ihm seinen Karabiner in den Haken zu manövrieren. Nun standen wir da, die Arme nur wenige Millimeter eingeknickt, die Füße in halbwegs bequemen, fest verschlossenen Schuhen, mit Blick auf den anderen, während sich die Kälte langsam durch unsere Haut fraß. So langsam bekam ich eine Ahnung von dem was Eva vorhatte. Zumindest einen Teil ihres Plans war klar: wenn sich einer von uns beiden zusammenkrümmt oder die Arme einzieht und damit die Kette nach unten zieht, werden die Arme des anderen und damit automatisch auch der ganze Körper gestreckt. Doch wie schlimm konnte das schon sein gegen das was wir schon erlebt hatten. Noch dazu mit unserer geschwächten und abgemagerten Statur. Doch wie lang mussten wir wohl hier stehen? Und was hatte Eva sonst noch vor? Meine Arme zitterten vor Kälte und ich war froh das der Pulli lang genug war um meinen Bauch trotz der Streckung zu bedecken. Ich unterdrückte ein Schaudern in dem Moment als Eva sagte: „So meine Lieben. Ich denke euch beiden dürfte klar sein was es mit dieser Konstruktion auf sich hat. Ihr habt nur eine Aufgabe: wach bleiben. Es sei denn ihr wollt den anderen ein paar Zentimeter größer machen. Ich werde euch hier allein lassen. Das ist mir echt zu kalt hier draußen, aber keine Sorge. Ich werde euch die ganze Zeit im Blick haben. Also denkt erst gar nicht daran zu versuchen euch von dem Haken zu lösen." Sie lächelte uns beide an und ging auf das Scheunentor zu. Ich schaute ihr fassungslos hinterher. War das ihr ernst? Wir sollten einfach nur hier stehen? Über Nacht? In der Kälte? Ich zitterte ja nun schon am ganzen Leib und meine Hände schliefen langsam ein. Es wurde zusehends dunkler und lange würde es nicht mehr dauern bis wir in kompletter Dunkelheit stehen würden. Gerade als Eva nach draußen trat rief ich ihr nach: „Wie lang müssen wir hier denn stehen?" Eva blickte mich über die rechte Schulter an, lächelte hinterhältig und sagte nur: „Gute Nacht." Mit offenem Mund schaute ich ihr zu wie sie das Tor zuschob. Mit dem Geräusch als das schwere Holztor gegen das andere schlug wurde es schlagartig dunkler. Ich blickte zu Chris von dem ich nur noch die Umrisse erkennen konnte. Sein Kopf war gesenkt und ich überlegte was wohl in ihm vorging. War er hoffnungslos? Hatte er Schmerzen? Spürte er die Kälte schon in seinen Knochen? Sollte ich ihn ansprechen? Letztes Mal war das ja ziemlich nach hinten losgegangen und ehrlich gesagt hatte ich keine Lust das er mir absichtlich Schmerzen zufügte. Ich ließ meinen Kopf ebenfalls sinken und bewegte meine Finger um das Gefühl der Stecknadeln in ihnen loszuwerden. „Bereust du es?", hörte ich nach kurzer Zeit Chris' Stimme leise fragen. Ich stoppte meine Fingerbewegungen und hob meinen Kopf, doch mein Bruder schaute noch immer zu Boden. „Natürlich. Ich würde es sofort rückgängig machen wenn ich könnte." Nun hob mein Gegenüber langsam den Kopf. Ich vermutete das er mich anblickte, doch sein Gesicht lag komplett in Schatten. Seine Stimme spiegelte dafür den Hass, den er anscheinend empfand umso deutlicher wieder. Kalt sagte er: „Und was Andreas? Was tut dir leid?" „Alles." „Sprich es aus. Ich will es hören", schrie er mir entgegen und zog kurz ruckartig an den Ketten, sodass meine Arme für einen Augenblick schmerzhaft nach oben gezogen wurden. Ich zischte und spürte wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. Ich senkte meinen Blick wieder und begann alle Dinge aufzuzählen, für die ich mich in den letzten Monaten verantwortlich fühlte. 

Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt