1 - Mein Leben oder die pure Langeweile. Nenn es wie du willst.

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Es ist ein heißer Tag. Ein verdammt heißer Tag. Sogar für australische Verhältnisse ist es viel zu heiß um auch nur eine unnötige Bewegung zu tun. Und genau das ist der Grund wieso ich mit einem Buch in meinem abgedunkelten Zimmer hocke und lese. Ok, vielleicht liegt es auch daran das ich ständig lese, egal wie warm oder kalt es ist. Neben mir auf dem Nachtisch steht ein Krug mit Eistee, direkt vor mir bläst mir ein alter Ventilator träge Luft ins Gesicht. Die Klimaanlange läuft schon den ganzen Tag auf Hochtouren, die Hitze will aber einfach nicht restlos verschwinden. Eine Weile spiele ich mit dem Gedanken an den Strand zu gehen aber da ist bestimmt höllisch viel los. Seufzend klappe ich das Buch zu und lege es auf mein Bett. Es kostet mich einiges an Überwindung um aus dem Bett zu kommen, doch schließlich stehe ich auf und gehe in die Küche. Am Kühlschrank klebt ein Zettel von meiner Mutter, auf dem steht, dass sie beim Einkaufen ist. Mit einer Schüssel Obstsalat setze ich mich auf unsere Terasse und beobachte meine zwei kleinen Brüder beim Fußball spielen. Die Zwillinge sind für ihre 9 Jahre schon begeisterte und ziemlich talentierte Fußballer. Meine kleine Schwester ist lieber den ganzen Tag drinnen und chattet mit ihren Freunden. Meine Mutter arbeitet halbtags in einer Anwaltskanzlei. Eine ganz normale Familie die ein ganz normales Leben lebt. Aber ist euch schon was aufgefallen? Richtig, der Vater fehlt. Das liegt ganz einfach daran, dass er sich in die Kindergärtnerin der Zwillinge verliebt , und meine Mutter promt fallen gelassen hat. Das war vor etwa genau einem Jahr. Und vor genau 2 Wochen sind wir in dieses Haus nach Sydney gezogen, welches mein Vater großzügigerweise bezahlt hat. Aber auch nur damit er sich in unserem alten Apartment in Melbourne mit dieser 20-jährigen Schnepfe austoben kann. Es ist ein schönes Haus. Großer Garten, genügend Zimmer und ich habe mein eigenes Bad. Aber ich kann es nicht genießen weil ich ständig den Grund unseres Umzugs im Kopf habe. Will und Finn, die Zwillinge, interessiert es überraschend wenig das unser Vater weg ist. Cadie, meine 15 Jahre alte Schwester, ist gerade mitten in der Pubertät und hat wichtigeres vor als sich um unsere kaputte Familie zu kümmern. Bleibe also nur ich. Ich würde mich nicht als schwarzes Schaf der Familie bezeichnen. Aber das bin ich. Mit stolzen 17 Jahren hatte ich noch nie einen Freund, hatte gerade mal eine Freundin in Melbourne und meine Büchersammlung ist mir wichtiger als alles andere das ich besitze. Cadie hat in den zwei Wochen hier in Sydney bereits massig Freunde gesammelt und die Zwillinge sind eh immer der Mittelpunkt, egal wo sie sind. Meine Mutter würde jetzt wahrscheinlich etwas geistreiches zu meinem Zustand sagen. Zum Beispiel: „Wenn du in den zwei Wochen hier das Haus mal verlassen hättest, dann hättest du jetzt auch bestimmt schon Freunde.“ Was, erstens Mal, totaler Schwachsinn ist weil ich extrem schüchtern und verschlossen bin, und zweitens habe ich das Haus bereits verlassen um zum Briefkasten zu gehen. Schule ist bei mir auch kein Thema mehr weil ich meinen Abschluss bereits habe. Jetzt überlege ich erstmal für ein Jahr was ich mit meinem Leben anstellen will. „Grace!“, ruft Will durch den Garten und kommt schwitzend auf mich zugerannt. Der Obstsalat wird mir elegant aus der Hand gemopst und triumphierend schwenkt der kleine Junge die Schüssel herum. „Willst du ihn wieder haben? Dann hol ihn dir!“ Kichernd rennt er los, bis zu dem kleinen Pool am Ende des Gartens. Vorsichtig schaue ich auf die Nachbargärten links und rechts, doch es ist niemand da der mich sehen könnte. Also springe ich auf und jage dem kleinen Mistkerl hinterher, woraufhin Finn ihm zur Hilfe kommt und mir alle 5 Sekunden sein Bein in den Weg stellt. „Hört auf ihr zwei Idioten und gebt mir diesen scheiß Obstsalat wieder! Und wenn ihr Mom sagt das ich Scheiße gesagt habe, dann schneid ich euch heute Nacht Körperteile ab von denen ihr noch nicht mal wisst wozu die gut sind!“, keuche ich, während ich immer langsamer werde. Schließlich bleibe ich ganz stehen und schnappe nach Luft. Das Geräusch eines sich öffnenden Fensters lässt mich herumwirbeln. Cadie streckt ihren Kopf heraus und brüllt so laut, dass man es wahrscheinlich noch in China hören kann: „Grace, halt die Klappe! Als ob du wüsstest für was diese Körperteile da sind, Jungfrau Maria 2.0!“ Geschockt beobachte ich wie sie das Fenster wieder zuknallt. Als ich mich umdrehe kugeln sich Will und Finn im Gras, obwohl ich mir ziemlich sicher bin das sie den Inhalt ihrer Worte nicht verstanden haben. Das ist jedoch nicht das einzige Lachen um mich herum. Als ich mich zum dritten Mal umdrehe, verschwinden gerade zwei Köpfe hinter dem Nachbarszaun. Wütend stampfe ich zurück ins Haus und dort direkt zu der Zimmertür meiner Schwester, die gerade einer Freundin per Skype ihre ach so lustige Aktion schildert. Ohne Vorwarnung reiße ich die Türe auf und packe meine Schwester am Kragen „Was sollte das gerade?“, fauche ich. Sie setzt gerade zu einer frechen Antwort an, da unterbricht sie ein Räuspern hinter mir „Gace, lass deine kleine Schwester in Ruhe und hilf mir mit den Einkäufen.“. Meine Mutter steht in der Tür und funkelt mich drohend an. Es ist nicht das erste Mal das sie Cadie den Hintern rettet. Wortlos lasse ich die Mistgurke los und trotte hinter meiner Mom her. Ich helfe ihr beim Ausladen des Autos und räume die Sachen in den Kühlschrank während meine Mutter mich schimpft: „...das ihr immer streitet...vergiss nicht das sie jünger und kleiner ist...sie macht gerade eine schwere Phase durch...heute Abend kommen die Nachbarn zum Essen..“. Erst bei dem letzten Satz werde ich hellhörig. „Welche Nachbarn?“, frage ich. Amüsiert schaut sie mich an „Die Hoods von nebenan. Sie haben einen Sohn in deinem Alter. Er ist ein echt hübscher Junge. Sieht ein wenig asiatisch aus, ist er aber nicht.“. Ganz toll. Jetzt muss ich mich duschen und hübsch machen. Kann ja sein das ich ein sozialbehindertes Etwas bin aber einen guten Eindruck will ich trotzdem machen. Nachdem die restlichen Sachen alle verstaut sind lasse ich meine Mutter allein mit dem Kochen und steige unter die Dusche. Meine dunkelblonden Haare föhne ich so, das sie schön glatt sind. Mein Make-Up halte ich wie üblich dezent und zum Anziehen suche ich mir eine schwarze Hotpans und ein dunkelblaues Top mit Blümchenmuster raus. Das ist zwar ziemlich niedlich für meinen Geschmack aber es ist nicht zu aufdringlich oder so. Um mich zu ärgern pfeift Mom anzüglich als ich wieder in die Küche komme. „Da hat sich aber jemand schön gemacht.“, muss sie natürlich noch einen Kommentar abgeben. Ich strecke ihr die Zunge raus und decke den Tisch auf der Terasse. Finn schubst Will gerade in den Pool, woraufhin dieser sämtliche Schimpfwörter loslässt die er in seinem gesamten Leben gelernt hat. Das schlimmste dabei ist „Behinderter Entenschwanzdödel“, wobei ich mir nicht sicher bin ob es sich um ein echtes Wort handelt. Als der Tisch fertig gedeckt ist lasse ich mich auf einen der Korbsessel nieder und beobachte wie die Sonne allmählich untergeht. Jetzt wäre es schön mein aktuelles Buch hier draußen fertig zu lesen, was aber bei dem Lärmpegel der Zwillinge vollkommen unmöglich ist. Ein leichter Wind lässt mich schaudern und ich hole mir zur Sicherheit eine dünne Strickjacke. Zwar hat es hier in Sydney im Januar durchschnittlich etwa 22 Grad, trotzdem kommt immer mal wieder ein kühle Briese vor. „Cadie, Grace, holt die Jungs rein und steckt sie unter die Dusche. Unsere Nachbarn kommen bald.“, ruft meine Mutter aus der Küche. Ihre Anweisungen blende ich gekonnt aus, immerhin hat sie ja auch Cadie gerufen. Doch als sie fünf Minuten später immer noch nicht im Garten auftaucht fasse ich mir ein Herz und packe die beiden Jungs. Natürlich lassen sie sich nicht widerstandslos ins Bad zerren, doch gegen ihre ältere, größere und vorallem stärkere Schwester haben sie nun mal keine Chance. Finn darf sich bei mir im Bad waschen weil sie sonst nicht rechtzeitig fertig werden. Es wird trotzdem verdammt knapp, gerade als ich Will in sein T-Shirt helfe klingelt es an der Tür. Neugierig schleiche ich den Zwillingen hinterher und werfe einen Blick über das Treppengeländer. Als erstes tritt eine kleine Frau mit dunklen Haaren in mein Sichtfeld. Ich kann nicht sehr viel sehen aber sie scheint ganz symathisch auszusehen. Hinter ihr steht ein Mädchen, etwa so alt wie Cadie. Sie ist richtig hübsch und sieht, genau wie die Frau, richtig nett aus. Meine Mutter lotst die beiden Richtung Terasse und ich runzle verwirrt die Stirn. Wo ist jetzt der Asiate für den ich mich hübsch gemacht habe? Ein wenig angefressen hüpfe ich die Treppe runter und erschrecke Mom fast zu Tode als ich plötzlich hinter ihr in der Küche auftauche. „Wo ist der Asiate?“, frage ich, betont gleichgültig. Da es jedoch gleich die erste Sache ist, die ich anspreche, hätte ich genauso gut wie ein aufgeregter Welpe um sie rumtanzen können. „Mrs. Hood meinte, dass er später noch kommt. Trifft sich mit Freunden.“, meint sie und kneift mir in die Seite. Grummelnd verlasse ich die Küche und trete auf die Terasse, wo das Mädchen und die Frau gerade über unseren Garten sprechen „.. schöner Pool. Und ziemlich groß.“, sagt das Mädchen gerade und die Frau stimmt ihr zu. Ich räuspere mich und die beiden drehen sich lächelnd um. „Ah, du bist Cadie, richtig?“, lächelt Mrs. Hood und reicht mir die Hand. Um ein Lächeln bemüht schüttle ich sie kurz und erwiedere dann etwas kühl: „Nein, zum Glück bin ich Grace. Freut mich Sie kennenzulernen.“. Das Mädchen umarmt mich kurz und stellt sich als Mali vor. „Mein Bruder Calum hat noch Bandprobe. Sie halten sich für All Time Low.“, informiert sie mich und ich höre den spöttischen Unterton. „Ach bitte, als ob irgendwie All Time Low das Wasser reichen könnte.“, schnaube ich und schüttle empört den Kopf. ATL ist meine absolute Lieblingsband. „Ja genau! Bist du ein Fan? Ich nämlich schon.“. Und in diesem Moment hörte ich Engel singen und Mali hatte plötzlich einen Heiligenschein auf dem Kopf. Während Mrs. Hood sofort von den Zwillingen verzaubert ist setzen Mali und ich uns an den Rand des Pools und führen ein Fachgespräch über die Band. Leider ist das schon die einzige Band die wir beide mögen. Mayday Parade mag sie seit dem neusten Album nicht mehr und von The Maine hat sie noch nie gehört. Auch Boys Like Girls kennt sie nur durch ihren Bruder. „Macht nichts. Was hast du sonst noch so für Interessen?“, möchte Mali wissen. Als Antwort stehe ich auf und führe sie zum hinteren Teil des Gartens, wo auch ein kleiner Schuppen steht. An der Grundstücksmauer zum Haus gegenüber wachsen hohe Büsche und auch auf die Gärten der Nachbarn neben uns hat man keine Sicht. Mir ist das Recht, hier kann ich ganz entspannt üben. Ich deute dem jüngeren Mädchen zu warten und hole meine Ausrüstung aus dem Schuppen: Der traditionelle Bogen, den ich zum 15. Geburtstag bekommen habe, ein Köcher mit 7 Pfeilen und der Armschutz. Draußen hat Mali schon die Zielscheibe entdeckt und beobachtet gespannt wie ich den Armschutz anlege. Zugegeben, ich fühle mich immer ganz schön cool wenn ich jemanden mein wohl einziges Talent zeige. Auch jetzt genieße ich den beeindruckten Blick als ich den Pfeil geradewegs in die schwarze Mitte der Scheibe befördere. Die nächsten vier landen ebenfalls im Schwarzen, dann streife ich den Schutz ab und reiche ihn an Mali weiter. „Ich weiß nicht, ich bin nicht sehr gut im Zielen und Treffen.“, murmelt sie und starrt auf den schwarzen Bogen in meiner Hand. „Schwachsinn. Selbst wenn du nicht triffst, es ist ein tolles Gefühl wenn man die Sehne loslässt und der Pfeil losrast.“, beruhige ich sie. Etwas ungeschickt legt sie den Armschutz an und fährt dann erstmal den einmaligen Schwung des Bogens nach. „Der sieht teuer aus.“. „Ein Einzelstück. Mein Vater hat ihn für mich machen lassen.“, sage ich und versuche die Wut runterzuschlucken, die sich automatisch in mir breitmacht wenn ich meinen Vater erwähne. Etwa eine halbe Stunde lang versuche ich Mali beizubringen wie man wenigstens die Zielscheibe trifft – erfolglos. Dann ruft Mom uns zum Essen und ich schicke Mali schon voraus, während ich die Pfeile einsammle. Etwas in Panik stelle ich fest das nur 6 Pfeile aufzufinden sind. Der letzte ist nirgendwo zu sehen. Ich taste den gesamten Boden ab, da es mittlerweile dunkel ist und ich nur Umrisse erkennen kann. Nach 5 Minuten erfolglosen Suchens kommt mir ein Gedanke: Vielleicht hat Mali den Pfeil aufs Grundstück nebenan geschossen? Ohne nachzudenken klettere ich über die Mauer und lande geschickt im Garten der Hoods. Die schwache Poolbeleuchtung ermöglicht mir einen Blick auf den einsamen Pfeil der am Grund des Pools liegt. Scheiße. Und jetzt?

Neighborhood    | c.h. / m.c. |Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt