Tage der Ungewissheit

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Am Sonntag sprach ich nicht mit Tobias. Ich konzentrierte mich ganz auf meine Familie. Ich zeigte ihnen die Teile des Palastes, mit denen ich inzwischen vertraut war. Im Musiksalon spielten Annika und ich zusammen Klavier. Am Nachmittag gingen wir Geschwister mit Emi und ihren Geschwistern in die Stadt zum Bummeln und Shoppen. Es schneite ein wenig, was dem Ganzen eine weihnachtliche, gemütliche Atmosphäre gab. Unsere Eltern schlossen sich lieber der Sightseeingtour mit Susanns Familie an. Am Abend mussten leider schon wieder die Sachen gepackt werden. Diesmal fiel mir der Abschied leichter. Es war für kürzere Zeit und ich wusste, dass ich mich auch ohne sie hier wohl fühlen würde.

Nach der Verabschiedung ging ich sofort auf mein Zimmer, da ich etwas Zeit für mich allein brauchte. Ich legte mich auf die Couch und las ein Buch aus der Bibliothek, von welchem Emi mir vorgeschwärmt hatte. Es war toll geschriebener Krimi über irgendeinen Mord von einem ihrer Lieblingsautoren. Nicht wirklich mein Genre, aber es diente als gute Ablenkung. Ich wollte mal raus kommen aus dem Palast und für ein paar Stunden vergessen, dass die nächste Woche sehr anstrengend werden und einige Überraschungen parat haben könnte. Normalerweise gelang mir das am besten mit Musik. Aber die Umgebung und der edle Flügel im Musiksalon erinnerten zu sehr an das, was ich zeitweilig verdrängen wollte.

Irgendwann kam Jean plötzlich rein. Ich erschrak und verblätterte die Seite.

„Oh, Mylady! Bitte verzeihen Sie mir. Ich habe Sie hier noch nicht erwartet.", entschuldigte er sich sofort.

„Schon gut. Ich hatte mal eine kleine Auszeit nötig.", erklärte ich.

Jean lächelte: „Aber natürlich. Es ist sicher anstrengend mit zwei anderen Damen um die Gunst des Kronprinzen zu wetteifern."

Ich lachte auf: „Wetteifern ist gut. Es ist eher umgekehrt. Er will mich, aber ich bin nicht sicher, ob ich ihn will."

„Oh, das ist aber eine ungewöhnliche Situation." Er runzelte die Stirn und fragte: "Welche Frau würde einen Prinzen verschmähen? Rein rational betrachtet stellt er eindeutig die beste Partie dar. Was man von einem einfachen Bediensteten nicht behaupten kann." Der Arme klang ziemlich resigniert, als spräche er aus Erfahrung.

Ich versuchte, ihn etwas aufzuheitern: „Ach, Jean. Ich denke nicht, dass jede Frau nur rational denkt. Tut mir leid, wenn du dich in die Falsche verleibt hast. Aber wenn sie irgendeinen reichen oder einflussreichen Schnösel dir vorzieht, ist sie ziemlich dumm. Du bist so ein liebevoller, lustiger Mensch. Sie hätte dich eh nicht verdient." Ich lächelte ihn aufmunternd an.

Er sah zu Boden. „Danke, Mylady. Ich fürchte nur, ich bin trotzdem in sie verliebt, auch wenn ich sie niemals haben kann." Er bemühte sich schnell das Thema zu wechseln: „Nun, ich bin eigentlich hier, um zu Lüften, bevor Sie sich schlafen legen." Er ging durch das Zimmer und öffnete die Balkontür. Ein frischer Lufthauch flog herein. Jean ging ins Schlafzimmer, um das Fenster dort ebenfalls zu öffnen.

Mir fiel auf, dass ich noch gar nicht auf dem Balkon gewesen bin und stand auf, um mein Versäumnis nach zu holen.

Der Blick auf den Garten war bei Nacht wunderschön. Es musste inzwischen noch viel mehr geschneit haben, denn eine dünne weiße Schicht lang über den Bäumen, Hecken und Beeten. Warme Laternen beleuchteten die Wege und die Springbrunnen plätscherten vor sich hin. Ich konnte zwei eingemummelte Gestalten auf den Wegen entlang spazieren sehen. Ich lehnte mich auf das Geländer und beobachtete sie. Ich erkannte nicht, wer es war, aber wahrscheinlich kannte ich die beiden sowieso nicht. Schließlich gab es so viele Bedienstete in diesem Haus und das Königspaar war es auf jeden Fall nicht.

Sie ließen sich auf einer Bank vor einem Blumenbeet nieder. Nach einer kurzen Weile beugte sich einer der Beiden zum Anderen rüber und küsste ihn oder sie. Ich lächelte. Wenigstens diese Zwei hatten einander gefunden. Doch als eine Person ihre Position veränderte und ich ihr Gesicht sehen konnte, wandte ich mich eilig ab. Es war die Prinzessin! Ich fühlte mich schuldig beim Gedanken, die Prinzessin beim Knutschen beobachtet zu haben und ging schnell wieder rein ins Warme. Jean war schon wieder verschwunden. Ich nahm das Buch auf und konzentrierte mich darauf. Es war mir schrecklich peinlich. Aber ich bekam das Bild nicht aus meinem Kopf heraus und fragte mich, wer ihr heimlicher Verehrer wohl war.

Silver Swan ~ Die SchwanenköniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt