Louise saß an einem nasskalten Novembermittag in ihrem Büro im 32 Stockwerk des Bürogebäudes und wälzte Unmengen an Papier. Hier und da markierte sie Passagen farblich, klebte hin und wieder einen bunten Streifen an den Rand der Seite oder blätterte wild zurück, um gewisse Teile nochmals zu studieren. Das Kick-Off Meeting für die PR Tour mit Pierce Brown und seinem neuen Buch war am Morgen erfolgreich verlaufen und Louise nutzte den Mittag nun, um die ausführlichen Briefings, die Mark mit der Marketingabteilung erarbeitet hat nochmals durchzugehen, bevor sie am Nachmittag mit Joy über dem Reiseplan senieren würde, der sie in den kommenden Wochen erwartete. Abschließend hatten sie ein gemeinsames Dinner mit Onkel Richard, Kellerman, Pierce und weiteren Vertretern des Ward Verlagshauses geplant.
Louise würde Pierce für acht Stopps der Tour begleiten. Das bedeutete acht Städte, acht verschiedene Signierstunden, unzählige Interviews und gleichzeitig mehrere Flüge, die sie bestreiten würde für viele Nächte in ungewohnten Betten. Normalerweise freute sich Louise auf solch eine Abwechslung vom Verlegeralltag. Sie arbeitete gerne eng mit der Marketingabteilung zusammen und Pierce war jemand, der ihr sehr ans Herz gewachsen war und den sie auf diese Weise ein wenig unterstützen wollte. Mit ihm hatte sie in den vergangenen Wochen des Öfteren telefoniert, da er diesen Durchbruch verarbeiten und auch die Anforderungen von Ward erst verstehen musste. Pierce war brillant, aber überaus sensibel und ein wenig mit den PR Plänen überfordert. Er wollte als Autor doch nur Schreiben und seine Leser damit glücklich machen - aber der ganze Rummel um seine Person ging ihm eine Spur zu nahe. Daher musste Louise hier für ihn in die Bresche springen und mit ihm verinnerlichen, wie wichtig solche Aktionen für sein Vorankommen als Autor waren und die ihn in seinem Tun nur bestätigen würden.
Sie hatte in den letzten Wochen noch weniger Schlaf bekommen als sonst. Die Einnahme der eigentlich für Notfälle bestimmten Adrafinil Tabletten wurde immer häufiger, sodass Louise mittlerweile Schwierigkeiten hatte zu schlafen, wenn sie sich die Nachtruhe gönnen wollte. Dieses Jahr war für sie mit dem Vertrag mit Pierce eines der spanndendsten aber auch anstrengendsten ihrer gesamten bisherigen Karriere - und auch wenn sie es sich nicht wirklich eingestehen wollte, das Jahr hatte sie ihre gesamte Energie gekostet. Sie war ausgebrannt, innerlich müde und spürte stetig diese Grundnervosität in sich, aber der Erwartungsdruck gegenüber ihrer Person war so hoch, dass sie nach außen hin immer perfekt hergerichtet, stets lächelnd, gut gelaunt und voller Ideen wirken musste. Diese Fassade beizubehalten fiel Louise jedoch zunehmend schwerer, weshalb der Trip mit Pierce tief in ihr drin ein Unbehagen auslöste. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, hatte sie keinen blassen schimmer, ob und wie sie diesen Marathon durchstehen würde. Ob sie aber wollte oder nicht - es war ihr Job, den sie liebte, der für sie der Inhalt ihres Lebens war - und mit einer oder mehr zusätzlichen Adrafinil würde das schon irgendwie gehen.
Genervt legte Louise ihr Gesicht in ihre Hände. Sie erwischte sich dabei, wie sie die letzten drei Seiten des Briefings weiter blätterte, ohne den Inhalt wirklich zu lesen. Ihr Kopf war leer, sie hatte das Gefühl, dass sie sich lediglich die gedruckten Buchstaben auf den Blättern angesehen hatte. Gereizt warf sie sich in ihrem Bürostuhl zurück und seufzte laut auf, während sie ihren Kopf in den Nacken legte. Sie hatte in der vergangenen Nacht garnicht geschlafen. Pierce war bereits am Vorabend nach New York gekommen. MIt ihm hatte sie den Abend bei einer Flasche Wein in einer Bar verbracht und ihn mental ein wenig auf das Kick Off Meeting eingestimmt. Sie hatte versucht ihm durch dieses Treffen ein wenig die Vorbehalte vor dem Ward Publishing House zu nehmen, und ihm zu erklären, was bei dem Meeting und auf der PR Tour auf ihn zukommen würde. Pierce war in nicht enden wollender Redelaune gewesen, sodass Louise erst um 3 Uhr morgens in ihr Bett kam und dort vor lauter Anspannung und Nachwirkung der beiden Wachmacher-Pillen kein Auge zu bekam.
Louise blickte aus der Fensterfront auf die graue Skyline von New York. Es regnete bereits seit den Morgenstunden, was ihre innere Stimmung alles andere als aufhellte. Dicke Tropfen benetzten die Scheiben und ein trüber Dunst hing über der Stadt. New York ging es an diesem Tag womöglich ähnlich wir Louise - dunkel, trüb und drückend traurig. Sie schloss kurz ihre Augen in dem Versuch sich ein wenig zu sammeln und ihre Gedanken wieder zu fokussieren, um einen erneuten, konzentrierten Versuch mit den Papieren zu wagen, als ihr iPhone auf ihrem Schreibtisch zu vibrieren begann und einen Anruf anzeigte. Louise grummelte genervt über den Storenfried, der ihre Selbstmeditation in diesem Moment störte, schielte jedoch auf das Display, um zu erspähen, ob der Anruf vielleicht nicht doch wichtig sein würde. Da die CallerID auf dem Screen lediglich ein "Unknown" anzeigte, beugte Louise sich vor, und ließ das Telefon mit einem Druck auf den Homebutton verstummen. Ein gewohntes, leises Gefühl von schlechtem Gewissen, schob Louise beiseite - wenn es wirklich wichtig wäre, würde der Anrufer sicherlich eine Nachricht hinterlassen.
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If we meet again... [Wattys 2018 Longlist]
Фанфик[Wattys 2018 Longlist] Arbeit, Arbeit, Arbeit - das ist der Lebensinhalt der Karrierefrau Louise Ward. Als Teil eines großen Familienimperiums, hat sie ihr Leben voll und ganz Ward Brothers & Co. verschrieben, bis zufällige Begegnungen, einige Earl...