22. Regelbrecher

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AZAD

„Es verlangt sehr viel Tapferkeit sich seinen Feinden in den Weg zu stellen. Aber wesentlich mehr noch sich seinen Freunden in den Weg zu stellen."

Harry Potter und der Stein der Weisen

„Azad Abi", hörte ich jemanden nach mir rufen und drehte meinen Kopf nach hinten und blieb im selben Moment stehen. Okan, der zwar neben mir herlief, aber auf seinem Handy vertieft war, lief geradewegs weiter. „Was gibt's, Amine?", lächelte ich Selims jüngere Schwester an, die total aufgewühlt vor mir zum Stehen kam.

„Hast du Selim Abi gesehen?", fragte sie verzweifelt und blickte nun an mir vorbei zu Okan, der einen kurzen schmerzvollen Laut von sich gab, da er gegen eine Laterne gelaufen war. Kurz schmunzelte Amine, raffte sich jedoch wieder und blickte ernst in mein Gesicht. „Nein, habe ich nicht. Ist etwas passiert?", meine Stirn legte sich in Falten. Sie seufzte laut auf und raufte ihre glatten, braunen Haare. Ich hatte sie seit längerem nicht so verzweifelt gesehen und das gefiel mir alles andere als gut.

„Er hat sich gestern mit Semih Abi gestritten und ist völlig aufgewühlt und aufgebracht aus dem Haus gegangen und ist seitdem nicht mehr aufgetaucht", erklärte sie mir die Sachlage und ließ mich mein Gesicht verziehen. Wenn Selim das Haus verließ, nicht bei mir auftauchte und am nächsten Tag nicht an der Uni erschien, dann passierte etwas Schlechtes – etwas, was er im Nachhinein zu bereuen anfing. „Ich kläre das", versuchte ich sie zu entlasten, doch konnte ich nicht all ihre Sorgen auf mich nehmen. „Sagst du mir Bescheid, wenn du ihn findest?", bat sie mich und ließ mich kurz lächeln. Mehr als ein Nicken brachte ich nicht übers Herz, doch reichte ihr das, und sie verabschiedete sich von mir.

Voller Hoffnung wählte ich Selims Nummer, jedoch war sein Handy – wie nicht anders zu erwarten – ausgeschaltet. „Was wollte Amine?", Okan rieb sich seine Stirn, während er auf mich zulief. „Tut mir leid, meine Stirn tut echt mehr weh, als ich gedacht hatte", lachte er und erklärte mir seine Abwesenheit. „Wie hast du es geschafft, gegen die Laterne zu laufen? Ich kenne dich Okan, du warst im Gedanken bei ihr", grinste ich und tippte auf meinem Handy herum. „Du hast recht, ich war vertieft auf ihrem Bild", verlegen kratze er sich am Nacken, doch seine Beichte überraschte mich. Was für ein Bild?
„Verdammt! Ich habe dir das gar nicht erzählt... Aber gerade gibt es anscheinend ein großes Problem, passt dir heute Abend?", fragte er, um von sich abzulenken und zu erfahren, was Amine wollte. „Selim ist seit gestern nicht mehr aufgetaucht. Geh du zur Vorlesung und ich suche nach ihm. Wir sehen uns dann heute Abend bei mir. Ich rufe dich an, sobald du kommen kannst", erklärte ich ihm und wandte mich bereits ab, um zu meinem Wagen zu laufen. „Denk nicht einmal im Traum daran", ich hörte Okans Stimme dicht hinter mir und verdrehte die Augen.

Diese verdammte Diskussion führten wir jedes Mal, wenn etwas während der Vorlesungszeit geschah.

„Du musst zur Vorlesung, damit wir keine Lücken in unseren Aufschrieben haben. Das können wir uns nicht leisten. Ihr müsst da mindestens zu dritt sein, damit ihr alles versteht und uns Fehlenden fehlerfrei erklärt. Du weißt ganz genau, wie schlecht ich im Erklären bin", seufzte ich und stimmte ihn damit – zögernd – um.

Vor der Wohnung von Selims Kindheitsfreund kam ich zum Stehen und betete ihn nicht hier anzutreffen. Wenn er hier war, dann hatte er unsere — aber viel eher seine eigenen — Regeln missachtet, hatte seine Würde verloren.
Zögernd lief ich zur Tür, vor der ich aufatmete und die Klingel betätigte. „Glück", las ich den Nachnamen des Kindheitsfreundes meines Bruders – jedoch war er alles andere als das.
Er war kein Glück, kein Segen, kein Geschenk.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt