Ich bin, wer ich geworden bin

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Tory weiß nicht viel über die Welt, aber sie weiß, dass sie sie faszinierend findet. Sie weiß nicht wirklich, ob die Erde flach oder rund ist, aber das interessierte sie kein einziges Mal, wenn sie als kleines Kind den langen Feldweg wild lachend ihrem Hund hinterhergejagt ist. Wenn sie über Steine oder Wurzeln stolperte, fiel und sich das Knie blutig aufschlug, fragte sie sich nie, welche Bakterienstämme sich an der Wunde ansiedeln könnten oder warum sich dort eine Kruste bilden würde – sie weinte stattdessen. Tränenüberströmt trottete sie humpelnd zurück nach Hause, der Hund an ihrer Seite mit abgeknicktem Schweif, angelegten Ohren und einer ähnlich deprimierten Mine. Hin und wieder leckte er tröstend an ihrem Knöchel. Tory weinte nicht mal so sehr wegen der Wunde, als vielmehr über die Tatsache, dass dieser eine Fall den ganzen Tag zu Fall brachte. Sie hatte das Gefühl, dass urplötzlich Wolken aufzogen, die die Häuser grau anstrahlten, dass die unzähligen brummenden und umher schwirrenden Insekten verstummten, und dass weit und breit keine Menschenseele mehr zu sehen war. Ihr Sturz stürzte sie in eine Abwärtsspirale, die immer hoffnungsloser, immer dunkler und immer einnehmender wurde. Vor ihr breitete sich die allumfassende Schwärze aus, es gab kein Zurück, sie verlor sich, sie wusste, dass es vor nicht allzu langer Zeit anders war, zumindest hatte sie das Gefühl, dass es mal viel Licht gab, aber es war so schwer sich zu erinnern, so schwer, wenn selbst der Abgrund in unendliche Tiefen stürzte.

Sie kam bei sich zuhause an. Kurz fragte sie sich, warum sie überhaupt die Hand heben sollte, um an die Tür zu klopfen. Aber dann war ihr die Frage an sich zu sinnlos, zu anstrengend, anstrengender als einfach den Arm zu heben und es zu tun. Die Tür wurde geöffnet. Vor ihr nahm sie eine Silhouette wahr, ein Kleid mit vielen bunten Karos. Das Kleid ihrer Mutter. Das Kleid bewegte sich nach unten, ein Kopf tauchte vor ihren Augen auf. Zuerst das weiche Kinn mit der zarten Wölbung unter der Unterlippe, zusammengekniffene Lippen mit verzerrten Mundwinkel, ihre mit Sommersprossen befleckte Nase, die geröteten Wangen mit dem einprägsamen Muttermal und schließlich ihre Augen. Voller Sorge waren diese beiden Sonnen auf sie gerichtet. Tory verlor sich unmittelbar in den beiden schwarzen Punkten in der Mitte und erneut stahl sich ein ganzes Meer an Tränen aus ihren Augen. Ihre Mutter presste sie an sich und Tory fiel ihr um den Hals, ließ sich fallen und gehen.

"Ist ja gut, alles wird gut... Willst du mir sagen, was mit deinem Knie passiert ist?"

"Bin hingefallen", murmelte sie in die Beuge zwischen Schulter und Hals.

"Lass mich mal sehen." Vorsichtig löste sich ihre Mutter aus der Umarmung und begutachtete die Schürfwunde am Knie. Plötzlich schnappte sie nach Luft, ihre Augen weiteten sich um die doppelte Größe. Für mehrere Sekunden verweilte sie in einer Schockstarre, bis Tory die Spannung nicht mehr aushielt und sie am Arm schüttelte.

"Was hast du denn, Mama!"

"Tory, Schatz... deine Wunde! Sie ist... Meine Güte, ich glaube,... Am besten wir fahren sofort ins Krankenhaus!"

"Aber warum denn? Was ist damit? Werde ich sterben?"

"Ach, Häschen, irgendwann einmal ja, heute wahrscheinlich nicht, aber siehst du diesen dunklen, verklumpten Rand?

Tory starrte fassungslos die rote Öffnung an ihrem Knie an. Es war kein kleiner Kratzer, aber es war auch keine Schusswunde. Im Vergleich zum ansonsten unversehrten Körper war diese Wunde recht winzig. Doch sie nahm zurzeit so viel Platz in Torys Wahrnehmung ein, dass es so schien, als würde sie sich immer weiter ausbreiten. Was wäre, wenn sie ihren ganzen restlichen Körper langsam in sich hineinfraß? Tory konnte, nein durfte noch nicht sterben! Sie hatte noch nicht die neue Eissorte (war es Melone?) im Eiscafé der Stadt ausprobiert, sie ist noch nicht mit dem Traktor ihres Vaters durch das Feld gefahren und sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Mimo von gegenüber zum Spielen einzuladen. Wie konnte sie da schon Tschüss zur Welt sagen, wo sie diese noch nicht einmal halbwegs erspäht hatte?

"Mama! Wird es weh tun? Bitte nicht! Wird es sehr, sehr, sehr weh tun?"

Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlen würde zu sterben. Ihre Kniewunde tat schon weh, wie musste sich bloß der Schmerz anfühlen, wenn der ganze Körper kaputt gemacht würde? Oder war es wie einschlafen? Nein, das konnte es nicht sein, sonst würde ihr Herz nicht jedes Mal bei der Vorstellung vom Tod viermal so schnell schlagen. Tränen brannten in ihren Augen. Sie würde ihre Mama verlieren, und ihre Mama sie. Sie würde nie wieder bei ihrem Vater, ihrem Bruder, ihrem Opa, ihrer Oma, ihren Freunden sein können. Was tat man bloß all die Zeit unter der Erde? Musste man sich nicht zu Tode langweilen?

Eine Träne kullerte ihre Wange hinunter, als sich das Gesicht ihrer Mutter aufklärte. Verwirrt vergaß Tory für einen Moment den Schmerz in ihrem Knie, die Angst vor dem Tod, ihren letzten Gedanken. Mama lächelte. Sofort flachte Torys Atem ein wenig und das Ziehen in ihrer Brust ließ nach.

"Was ist denn jetzt so witzig, Mama?"

Gelassen warf ihre Mutter den blonden Schopf in den Nacken und lachte auf, als wäre Torys Wunde, Torys Leben, ein Witz. Erst dann erkannte das kleine Mädchen die Kamera, die ihre Mutter versteckt in den Händen gehalten hatte.

"Du hättest ihre Welpen-Äuglein sehen müssen, Schatz. Es war fantastisch." Hinter der Tür, die zum Wohnzimmer führte, trat ihr Vater hervor, ein Lächeln auf den Lippen. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er nach einem Tuch griff und es mit Wasser befeuchtete, um die kleine Wunde zu säubern. Schätzchen, es ist alles gut. Es hätte mich gewundert, wenn du nicht mit einem aufgeschlagenen Ellenbogen oder einer Beule nach Hause gekommen wärst. Guck mal, wie neu", stellte er fest, als er einen Pflasterstreifen mit kleinen bunten Sternen aufklebte und die Stelle behutsam streichelte. Ihre Mama schaute sie für einen Moment mitleidig an, bevor sie sie bei der Hand packte.

"Na, komm schon, diese Miene geht ja tiefer als der Keller. Ich glaube, da hilft nur noch eins..."

Schwungvoll öffnete sie den Kühlschrank und präsentierte ihr die Schokoladentorte, die sie zuvor gebacken hatten.

"Ihr macht euch über mich lustig! Das hat aber echt weh getan, das ist kein Spaß", schmollte Tory mit herunterschauenden Augen.

Das glaub ich dir, aber hast du schon bemerkt, dass du jetzt ganz normal gegangen bist? Fünf Minuten und alles ist vergessen. Vor allem mit einer so wundervollen Torte. Hilfst du mir den Tisch zu decken? Oma und Opa kommen gleich."

"Darf Naomi dann auch heute in meinem Bett schlafen?" Tory blinzelte ihre Tränen weg und winkte den kleinen Terrier zu sich. Geschmeidig tapste er zu ihr und hinterließ schwache Fußabdrücke auf den Küchenfliesen. Ihre Mutter seufzte lächelnd.

"Wenn du sie gut abschrubbst, ausnahmsweise."

Mit einem Sprung war Tory auf den Beinen und das breiteste Lächeln auf ihrem Gesicht. Ihr Knie schien sie vergessen zu haben. Sie hob Naomi in die Luft.

"Hast du gehört? Heute schläfst du bei mir! Und wir werden ganz lange wach bleiben", flüsterte sie so leise zu ihr, dass ihre Eltern es nicht hörten. Tory half dabei, den Tisch zu decken, während sie immer wieder das imaginäre Stöckchen-Spiel spielte. Sie lachte noch so viel an diesem Abend, dass ihre Wangen von dieser Anstrengung schmerzten. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie gelassen neben Naomi ein.

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