Oh, fuck.
"Hey, Carla."
"Tory, oh mein Gott!"
Umarmung. Wow, krasses Parfum. Soll das nach Rosen und Nivea riechen? Haare im Gesicht, weiche Haare. Die waren letztes Mal aber länger. Und jetzt das Gesicht. Durchschaut sie dich und dein hoffentlich ankommendes falsches Lächeln? Nein, sie schaut durch dich durch, auf was auch immer hinter dir ist, weil was-auch-immer-hinter-dir-ist sehr viel interessanter sein muss.
"Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Mir kommt's so vor, als wären drei Jahre vorbei, so viel ist passiert. Wie geht's dir? Was macht die Schule?", fragt Carla.
Smalltalk... Wie sehr ich das an ihr hasse. Komm, halt's Maul, ich bin ja genauso.
"Alles wie immer. Wir sind gerade in der Klausurphase, aber ansonsten... Und bei dir so?"
"Bin ein bisschen krank vom Wochenende, aber das legt sich wieder. Auf jeden Fall bis Samstag!"
Sie geben bestimmt ein interessantes Bild ab. Man müsste sich die beiden jungen Frauen wie eine Polizistin und eine Kriminelle vorstellen, die gerade verhört wird. Die eine, Carla, steht mit den Händen in der Hosentasche, das Gewicht auf einem Bein verlagert, die Jacke zurückgeschlagen wie Sherlock Holmes' Tochter auf dem Bahnsteig, während sich die andere, Tory, mit rastlosem Blicken wie potentielle Beute verhält, die mit verschränkten Armen versucht, ein wenig Haltung zu zeigen. Ihre rechte Augenbraue zieht sich in die Höhe.
"Was ist denn Samstag?", fragt Tory, obwohl sie echt nicht fragen will, aber sie hat es trotzdem getan, weil es ansonsten zur peinlichen Stille gekommen wäre und das hätte sie weniger ausgehalten als Carlas Bedeutsamkeit zu bestätigen. Diese schaut sie vielversprechend durch zwei kleine, bleierne Augen an.
"Samstag ist ein schöner Tag und ich kenn da jemanden und der feiert 'ne Party und du, Tory, begleitest mich." Sie nimmt Tory beim Arm und reißt erwartungsvoll die Augen auf.
"Ach, ich tu das?" Immer noch die Arme verschränkt.
"Jap. Wir können uns natürlich auch vorher schon treffen, in der Stadt gammeln und uns dann bei mir fertig machen. Wann haben wir uns denn das letzte Mal gesehen? Und überhaupt: Wenn ich dich hier schon mal zufällig treffe, kann ich doch nicht einfach nach zwei Sekunden weggehen. Hallo, Tschüss. Aber nenn mich ruhig Freundin!"
Und die Party macht den Unterschied?
"Und die Party ist wo nochmal?", fragt Tory.
"Etwas außerhalb der Innenstadt. Das gute ist, wir sind mit der Bahn von mir aus in zehn Minuten da. Du kannst auch bei mir pennen, wenn du möchtest."
Du meinst, wenn du möchtest.
"Wenn's dir nichts ausmacht", antwortet Tory.
"Ach, Quatsch. Das ist sogar besser."
"Okay, dann Samstag."
Carla freut sich, verpackt ihre positiven Gefühle gebündelt in eine anständige Umarmung und beendet die Konversation, wie sie sie angefangen hat.
Smalltalk...
*
Tory steigt in die Bahn, in die sie eigentlich vor zehn Minuten steigen wollte. Sie läuft den Gang hinab, bis sie schnell einen Platz am Fenster findet. Daran anlehnend denkt sie sich, dass sie eigentlich gar kein Problem mit Carla hat. Sie kriegt nur diese wirklich nervende Grundhaltung nicht aus dem Kopf, dass jeder Mensch bewusst und gerne Identitätsstörungen mit sich schleppt. Wenn jemand wirklich unter DIS leidet, ist das ein großes Problem für alle Beteiligten. Wenn aber jemand (und sie hat gerade insbesondere Carla vor Augen) mit zu viel Leidenschaft seine Facetten wie Diamanten schleift und mit der Fernbedienung zwischen ihnen zippen kann – dann ist das ein anderes Problem. Vor allem für Leute wie Tory.
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Einfühlung
Teen FictionSie: Auf gar keinen Fall schüchtern, dafür - so gehört es sich für ein richtiges Weibsbild - höchst emotional und mit zwei rechten Gehirnhälften ausgestattet. Dumm ist sie trotzdem nicht, sonst wäre sie ja wohl blond. Oh ups, sie ist blond. Das lang...