Fels in der Brandung

36. Anatolienreise

AZAD

"Großmutters Hände haben nie sehr viel besessen
Und es muss um sie geh'n, wenn ich über Liebe rappe
Bei ihr bin ich groß geworden, ohne Sorgen."

Namika— Hände (feat. Farid Bang)

„Bist du bereit?", las ich Okans Nachricht und musste ein Grinsen unterdrücken. Seit meinem Geburtstag waren nun knapp drei Wochen vergangen und heute würden Okan und ich über die Weihnachtsferien in die Türkei fliegen. Er und seine Eltern hatten mir zum Geburtstag ein Flugticket von Frankfurt nach Kayseri gekauft, was mich zwar total verärgerte — ein Geburtstagsgeschenk sollte in meinen Augen nicht so teuer sein — doch freute ich mich mindestens im gleichen Maße, da ich endlich wieder zu den Gräbern meiner Großeltern und Fatih konnte.

„Ja, ich komme dich gleich abholen", ließ ich ihn wissen und zog meinen Koffer in den Flur. Vom Kleiderhaken nahm ich mir meinen gefütterten Parka , setzte mir passend zu meiner schwarzen Jogginghose meine schwarze Raiders Snapback auf den Kopf und verließ meine Wohnung. Kurz huschten meine Blicke zu Zümras Wohnungstür und ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Unwillkürlich dachte ich an unseren gestrigen Abschied, der uns tatsächlich schwerer gefallen war, als ich gedacht hätte.

„Hey, ich wollte nochmal vorbeikommen, bevor ich losfahre", hatte sie gemeint, als sie mit ihrem Koffer und Bisasam in der Transportbox vor mir stand. „Das ist nett von dir", hatte ich nur über die Lippen bringen können. „Ich wünsche dir erholsame Ferien, Balta. Vermiss mich nicht allzu sehr", hatte sie grinsend zum Abschied gesagt, worüber ich sie lachend in die Arme gezogen hatte. „Bis nach den Ferien", hatte ich ihr zugeflüstert, sie aus der Umarmung befreit und ihr anschließend dabei zugesehen, wie sie zum Aufzug gelaufen war.

Vor Okans Auffahrt ließ ich meinen Wagen stehen und stieg aus, um mich von seinen Eltern zu verabschieden. „Azad Abi ist da", rief Mihriban ins Haus, als sie mir die Tür öffnete und trat zur Seite um mich reinzulassen. „Was soll ich dir mitbringen?", grinste ich die Schwester meines Bruders an und zwinkerte ihr kurz zu. „Hörst du das Abi? Kannst du dir bitte eine Scheibe Brüderlichkeit von Azad Abi abschneiden?", wandte sich Mihriban an Okan, der zu uns gestoßen war.
„Aber danke Azad Abi, ich brauche nichts", nach Okans Augenverdrehen lächelte mich Mihriban an und schob eine ihrer losen Strähnen hinters Ohr — automatisch musste ich an Zümra denken, die diese Geste auch immer wieder tat.

„Hülya Teyze (Tante), wünschst du dir was aus deiner Heimatstadt?", ich nahm sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Danke mein Sohn", sie lehnte sich zurück und legte mir liebevoll eine Hand auf die Wange. „Kommt heil wieder zurück, das ist mein einziger Wunsch", auf ihre Worte musste ich schwer schlucken und nickte schließlich stumm.
„Azadî (Kurdisch: Freiheit), Selim wartet auf uns", rief Okan aus dem Flur, woraufhin ich genervt die Augen verdrehte. „Bis in 10 Tagen, Abi", lächelte mich Mislina an, ehe ich das Haus verließ. „İnşallah, delala mîn (Wenn Allah/ Gott will, meine Schöne)", grinste ich und verschwand durch die offene Haustür.

„Seliiiiiiiim", Okan zog den Namen unseres Freundes in die Länge, als dieser sich auf die Rückbank setzte. „Na ihr Verräter", aus dem Rückspiegel konnte ich sein Grinsen sehen und wusste, dass er es nicht böse meinte. Die Jungs hatten es uns aber wirklich übel genommen, dass wir sie nicht in unsere Urlaubspläne eingeweiht hatten — denn sie hätten uns alle liebend gerne begleitet.

Nach einer zweistündigen Autofahrt in die hessische Großstadt erkannte ich die schönste deutsche Skyline und musste automatisch an Celos Line aus dem Remix zu „Chabos wissen wer der Babo ist" denken. „Lak, ruf an wenn du die Skyline siehst", rief Selim und brachte mich zum Grinsen — es hätte mich gewundert, wenn einer der Jungs mal an etwas anderes denken würde als ich.