Kapitel 1

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Ich betrat das Studierzimmer wie jede Woche um Punkt 10:00. Mein Privatgelehrter Herr Thomas saß bereits an dem großen Schreibtisch, welcher den meisten Platz des Zimmers einnahm. Ich setzte mich ihm gegenüber und schaute ihn erwartungsvoll an. Schließlich glitt sein Blick von seinen Notizen zu mir hoch und er begann mit seiner ruhigen Stimme den Unterricht:,, Wir werden heute die wichtigsten Grundlagen bezüglich der Erde wiederholen." Es ist erstaunlich, wie einem ein einziger Satz die Laune verderben kann, doch für mich gab es in der Zeit meiner Vorbereitung auf meine späteren Aufgaben nichts Langweiligeres als Wiederholungsstunden. Dennoch versuchte ich die in mir aufkommende Enttäuschung zu verbergen. Thomas bemerkte sie natürlich trotzdem, störte sich jedoch nicht weiter daran und fuhr fort: ,, Wenn du in die Fußstapfen deiner Väter trittst, und das wirst du, ist es von größter Wichtigkeit, dass du dir zu jeder Zeit darüber im Klaren bist, wann, warum und auf welche Art und Weise wir die Erde verlassen haben. Also beginnen wir mit der ersten Frage: Wann hat die Menschheit den Planeten Erde endgültig zu Grunde gerichtet und wann hat der Gründervater deiner Familie mit allen Menschen, die er retten konnte, die Erde verlassen?"

Um die Wiederholung schnell hinter mich zu bringen, begnügte ich mich mit kurzen Antworten:,, Vor ziemlich genau 494 Jahren." ,,Und durch welche Fehler hat die Menschheit die Erde zerstört?" ,,Die zwei wesentlichen Ursachen waren zum einen der Verlust der Artenvielfalt und der dadurch bedingte Bruch des natürlichen Lebenskreislaufes auf der Erde und zum anderen der durch Gier auf Energie und Komfort herbeigeführte Klimawandel." Thomas nickte bedächtig und fuhr fort: ,,Merke dir, es ist äußerst wichtig, dass wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Nun sage mir, wie konnten wir Menschen auf diesen über vier Lichtjahre entfernten Planeten gelangen?" ,,Mit Hilfe des Warp Antriebs, welcher die Raumzeit krümmt." ,,Sehr gut, ich denke wir können thematisch einen Schritt weiter gehen. Kommen wir nun auf dich und den Gründervater zu sprechen. Ein Nachkomme der wievielten Generation bist du von ihm?" ,,Der 15. Generation" ,,Korrekt. Viele Menschen glauben, dass der Gründervater Tod sei, doch wie du weist ist das noch nicht der Fall. Wie alt ist er körperlich?" ,,Es dürften inzwischen 96 Jahre sein."

Okay, an diesem Punkt sollte ich mich vielleicht zu Wort melden. Mein Name ist Cardo, was auch immer sich meine Eltern bei diesem Namen gedacht haben, und in diesen Notizen werde ich euch in die wichtigsten Ausschnitte meines Lebens mitnehmen. Wie ich gerade festgestellt habe, werde ich allerdings ab und zu Erklärungen einschieben müssen, um peinliche Missverständnisse zu vermeiden. Deshalb nun die erste Erklärung: Ja ich bin ein Nachfahre des Gründervaters in 15. Generation und ja der Gründervater ist aktuell 96, aber keine Angst, dass liegt nicht daran, dass die Menschen in der Zukunft ab dem 5. Lebensjahr Kinder bekommen können, sondern es hat etwas mit Physik zu tun. Und zwar vergeht die Zeit an einem Ort mit hoher Gravitation langsamer. Keine Angst, mein Ziel ist es, dass ihr weiterlest, deshalb werde ich euch von weiteren physikalischen Fakten verschonen, aber wenn ihr mir nicht glauben solltet, könnt ihr in euren Büchern oder im Internet nachlesen, falls es zu eurer Zeit schon oder noch existiert.

Mein Urur..... Großvater hat nach einem Weg gesucht, möglichst viele Generationen zu beeinflussen. Was hat er also gemacht? Er ist nicht mit auf einen neuen Planeten gekommen, sondern hat beschlossen seine Raumstation um das nächstbeste schwarze Loch (seeeeehr viel Gravitation) kreisen zu lassen. Dies bedeutet letztendlich, dass während neun Jahre für uns auf dem Planeten vergehen, bei ihm bloß ein einziges Jahr vorübergeht.

Kommen wir aber, bevor ich euch mit meinen Erklärungen langweile lieber wieder zurück auf meine eigene langweilige Belehrungsstunde.

Nachdem ich nun das Alter des Gründervaters korrekt wiedergegeben habe, musste ich noch eine weitere oberflächliche Frage ertragen, bevor Thomas ein wenig mehr ins Detail ging; ,Welche politische Position hat der Gründervater inne?" ,,Er ist der Vorsitzende des Senats auf der Raumstation, in welchem die wichtigsten Entscheidungen für die verbliebene Menschheit demokratisch gefällt werden." ,,Und als was wird der Gründervater vom Volk gesehen?" Diesmal dachte ich kurz nach bevor ich antwortete ,,Er wird als Retter der Menschheit gesehen und von einem Großteil der Menschen vergöttert, was, wenn man bedenkt, wie lange er bereits existiert und dass ihn kein Mensch auf dem Planeten je gesehen hat, ein naheliegender Schluss zu sein scheint. Manche halten ihn aufgrund der Rettung sogar für den christlichen Messias, doch da wir uns hier offensichtlich nicht im Himmel auf Erden befinden, muss an der Intelligenz dieser Fanatiker gezweifelt werden." Thomas hielt kurz inne, blätterte in seinen Unterlagen und sprach schließlich mehr zu sich selbst: ,,Ich sollte heute wohl ein wenig mehr fordern", dann fuhr er an mich gerichtet fort:,, Unsere Gesellschaft und ihr System haben nun bald ein halbes Jahrtausend Bestand, fällt dir eine Gesellschaft ein, die noch länger überdauert hat? Ich versuchte ein Lächeln zu unterdrücken, während ich erfreut feststellte, dass die wohl doch keine der üblichen Wiederholungsstunden werden würde, ganz im Gegenteil, diese Frage war zwar nun wirklich keine Herausforderung, aber definitiv etwas Neues. ,,Die Römer konnten ihr Reich in etwa doppelt so lange aufrecht erhalten." ,,Sehr richtig, kannst du Parallelen zwischen der Staatsform der Römer und der unsrigen erkennen?" Nach kurzem Zögern entschied ich mich für ein einfaches ,,Ja" als Antwort. Dies brachte mir einen kritischen Blick von Thomas ein, welcher auch direkt leicht gereizt nachhakte:,, Du solltest wissen, dass die Zeit der Römer in die Zeit Roms als Republik und in die Zeit des römischen Kaiserreichs zweigeteilt wird. Auf meine Frage nach Parallelen ja zu antworten, ist folglich unangemessen und undifferenziert, besonders für dich.

Mit dieser Reaktion hatte ich gerechnet und mir meine Antwort bereits zurechtgelegt. ,,Dessen bin ich mir durchaus bewusst, dennoch erachte ich ja nach wie vor, als die richtige Antwort. Es gibt mittels unseres Senats eine eindeutige Parallelität zur römischen Republik und mit dem Gründervater eine Parallele zum Kaiserreich, da dieser aufgrund der Vergötterung eine herausragende Machtposition erlangt hat und es undenkbar ist, dass sich das Volk in eine Richtung lenken lässt, die er nicht befürwortet. Folglich bestehen Parallelen zu den Römern, über ihre gesamte Herrschaftszeit hinweg, weshalb ich es als unwichtig erachtet habe, weiter auf die Zweiteilung einzugehen.

Thomas wartete kurz, ob ich noch mehr zu sagen habe und brach dann die Stille, in dem er seine Notizen und Bücher zuklappte und einsteckte. Schließlich sprach er leise aber bestimmt:,, Die Stunde ist für heute beendet. Ich werde über deine Antwort nachdenken und du solltest dich darin üben deine Antworten nicht bewusst hinauszuzögern, damit ich dir nicht alles aus der Nase ziehen muss, denn dieses Verhalten ist ein Zeichen von Arroganz. Dann verließ er den Raum.

Später wurde mit bewusst, dass Thomas mich in jungen Jahren mit diesem Schlusssatz sehr treffend charakterisiert hat. Ich war clever, aber überheblich. Doch damals blieb ich bloß noch einige Minuten verwirrt sitzen und schaute in Gedanken versunken aus dem Fenster auf die Bäume im Innenhof des riesigen runden Gebäudes, in welchem ich meine ersten zwanzig Jahre verbracht habe. Ich hörte die Menschen immer sagen, dass es auf der Erde viel besser gewesen sein muss als auf Proxima, doch so anders also unser Planet konnte die Erde gar nicht gewesen sein. Schließlich hat der Gründervater die Umsiedlung auf diesen Planeten, welcher damals noch als Proxima Centauri b bekannt war, bloß wegen den beiden Tatsachen beschlossen, dass er nah und der Erde extrem ähnlich ist. Schließlich raffte ich mich auf und schlurfte etwas verloren aus dem Raum in den runden Flur des Gebäudes. Da die Unterrichtsstunden normalerweise die gesamte Zeit bis zum Mittagessen in Anspruch nahmen, musste ich mir nun überlegen, auf welche andere Art und Weise ich die Zeit nutzen möchte. Währenddessen lief ich an den Bildern meiner Vorfahren, welche die Wand schmückten, vorbei. Bis auf den Gründervater haben sie alle bereits den Weg beschritten, der vor mir lag. Sie wurden genauso erzogen und vorbereitet wie ich, haben dann als Repräsentant des Senats und im Sinne des Senats über Proxima regiert und traten schließlich mit 40 Jahren die Reise zur Senatsstation an. Erst mit diesem Sitz im Senat wurde ihnen eine Möglichkeit gegeben bedeutende Veränderungen auf Proxima erreichen zu können. Über den Bildern stand auf Latein der Leitspruch unserer Familie pro familia et iustitia, welcher so viel bedeutet wie: Für die Familie und für Gerechtigkeit. Als ich den letzten Rahmen sah, welcher noch leer war und in welchem eines Tages ein Bild von mir hängen würde, wurde mir wieder einmal vor Augen geführt, dass vermutlich mein gesamtes Leben, aber insbesondere meine ersten 40 Jahre, bereits verplant und mein Weg bereits von außen bestimmt worden ist, und mich überkam eine niederschmetternde Hilflosigkeit. Um diese zu verarbeiten, entschloss ich mich, mich in mein Bett zu legen und bis zur nächsten Mahlzeit zu denken.

Vor meinen Verpflichtungen der Menschheit und meiner Familie gegenüber, konnte ich mich nicht drücken. Deshalb war mir klar, dass ich die für mich vorgesehenen Posten annehmen werden müsse und so auch meine Handlungen vom Senat diktiert werden würden. Dennoch fasste ich an diesem Tag einen Entschluss. Eines Tages würde ich die Menschheit auf eine Art und Weise verändern und voranbringen, welche niemand vorhergesehen oder diktiert hat und ohne dabei mit dem Motto meiner Familie in Konflikt zu geraten. Wie genau ich das anstellen wollte, wusste ich nicht, doch Jahrzehnte später sollte ich mich an diesen Entschluss zurückerinnern.

Den restlichen Tag füllte ich neben den beiden verbliebenen Mahlzeiten mit meinem täglichen Sport und dem Lernen von Latein.

Mein Sport besteht in der Regel daraus, dass ich den Rundweg um das Gebäude entlang jogge, da mit jeder Sport mit Körperkontakt aufgrund des Verletzungsrisikos untersagt worden war.

Beim Lernen stellte ich fest, dass mein Name auch im lateinischen existiert und so viel wie Türschwelle bedeutet, was meiner Einstellung zu meinem Namen und meine Stimmung nicht gerade verbesserte. Um 22 Uhr legte ich mich pünktlich in meinem fensterlosen Raum schlafen. Die Uhrzeiten waren wichtig, da Proxima sich nicht um sich selbst dreht und dadurch eine Sonnenseite und eine Schattenseite besitzt. Auf der Sonnenseite, wo Leben existieren kann und sich die Menschen niedergelassen haben, gibt es folglich keine Dunkelheit und keinen natürlichen Tagesrhythmus, wie ihr ihn von der Erde kennt. Die 24 Stunden Tage haben wir aber dennoch übernommen, weil sich der Mensch in seinem langwierigen Evolutionsweg dem Rhythmus der Erde angepasst hat und dieser dadurch am gesundesten ist. In dem Wissen, dass der nächste Tag sich nicht sonderlich von den letzten unterscheiden würde, schlief ich letztlich ein.

Kapitel2:

4 Jahre später:...


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⏰ Last updated: Aug 10, 2018 ⏰

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