24. Die Panikattacke

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AZAD

„Das Leiden, das schweigt, ängstigt dich mehr, als das Leiden, das schreit.
Das schweigende Leiden erfüllt das Zimmer."

Antoine de Saint-Exupéry —
Die Stadt in der Wüste

Die letzten Tage verliefen ruhig. Ich ging zur Uni, anschließend zur Arbeit und kam am Abend entkräftet nach Hause. Ab und zu telefonierte ich mit Zehra und Mahir und spürte bereits, wie die Sehnsucht in mir aufflammte. Außerdem wusste ich nicht, wie wir das hinbekamen, aber wir konnten uns mit Zümra perfekt aus dem Weg gehen — sie verließ vor mir ihre Wohnung und kam auch in der Regel vor mir nach Hause, weswegen unser letztes Aufeinandertreffen einige Tage zurück lag.

Während ich an einem meiner freien Nachmittage auf das Aufkochen meiner Nudeln wartete — mein Magen hatte bereits einige Male geknurrt und mich gebeten ihn zu füllen —, ertönte mein Handy. Grinsend nahm ich Okans Anruf entgegen und hörte sofort, dass er im Auto saß, da sein Motor kaum zu überhören war - Sportback eben. „Bruder, ich bringe dir gleich etwas zu Essen vorbei. Mislinas Nachhilfelehrerin wohnt bei dir in der Gegend und ich fahre sie gerade Heim. Meine Mutter hat dir deshalb etwas vom Essen eingepackt", sprach Okan wie ein Wasserfall und brachte mich zum Lachen. „Denkst du zwischendurch bitte auch an das Atmen? Ich will meinen Bruder nicht wegen Atemnot verlieren", lächelte ich traurig und lehnte mich an die Arbeitsplatte. „Halt die Fresse", lachte er und legte beleidigt auf, bevor ich ihm antworten konnte.

„Wer ist denn Mislinas Nachhilfelehrerin?", fragte ich Okan, nachdem ich ihm ein Glas Sprite servierte. Er stand vor ungefähr 10 Minuten frech grinsend vor meiner Wohnungstür und lief mit dem Öffnen geradewegs in die Küche.
„Vielleicht hast du sie schon mal gesehen. Braune Locken, braune Augen, lässige Klamotten. Sie wohnt sogar bei dir im Haus keine Ahnung in welchem Stockwerk, sie heißt Zümra und ist erst vor kurzem hier hergezogen", erklärte er und trank von seinem Getränk. „Sie wohnt direkt nebenan", gab ich überfordert von mir. „Kennst du sie?", Okan hob seine rechte Augenbraue in die Höhe. Ich nickte stumm und blickte zum Fenster. „Weißt du vielleicht, ob mit ihr alles in Ordnung ist? Sie hat plötzlich aus dem Nichts gemeint, dass sie nach Hause möchte und ist auch direkt ins Haus gerannt", überfordert blickte mich mein Bruder an und seufzte. „Was ist genau passiert?", fragte ich aufgeregt nach und blickte in sein Gesicht.

„Mislina war kurz bei mir im Zimmer, um mich an zu maulen und als Mihriban dann in dem Zimmer war, war Zümra total aufgewühlt. Hat sich den Kopf gehalten und unregelmäßig geatmet. Ich hab sie nur gefragt, ob alles in Ordnung ist. Sie hat zwar bejaht, aber sah alles andere als gut aus. Ich habe ihr dann angeboten, sie zu fahren und ja, jetzt ist sie vermutlich in ihrer Wohnung", er kratze sich am Nacken, überfordert von der Situation, von meiner aufgeregten Art.

„Okan, versteh mich nicht falsch, aber geh jetzt nach Hause", flüsterte ich, rannte kurz darauf in mein Zimmer und zog mir einen Hoodie über mein T-Shirt an. „Azad, was ist los?", Okan hielt mich an den Schultern fest, während ich wie paralysiert zur Tür lief.

„Sie hat oder hatte vermutlich eine Panikattacke, sie braucht vielleicht Hilfe", sprach ich und blickte verletzt in die Augen meines Bruders. Kaum merklich zuckte er zusammen, dachte vermutlich an meine Attacken, die in einem Nervenzusammenbruch endeten. Er ließ mich los, doch lief er statt mit mir aus der Wohnung in mein Wohnzimmer, vermutlich um hier auf mich zu warten und mich im Nachhinein aufzubauen.

Ungeduldig klingelte ich einige Male an der Tür meiner Nachbarin, doch hörte keine Reaktion ihrerseits. „Zümra, mach die Tür auf, bitte", ich klopfte wie verrückt an dem massiven Holz. Noch immer regte sich nichts, weswegen ich mir verzweifelt übers Gesicht fuhr und wenig später in meine Wohnung rannte, um auf den Balkon zu gehen. Zum ersten Mal in meiner Zeit in dieser Wohnung, war ich froh darüber, dass die Balkone der beiden Wohnungen nahezu aneinander grenzten — kaum ein halber Meter trennte die beiden Geländer voneinander. „Kletterst du rüber?", hörte ich Okans Stimme, während ich die wenigen Möbel, die ich hier stehen hatte, zurecht schob. Ich nickte nur, und blickte wie gebannt zur offenen Balkontür von Zümra. Ich spürte einen festen Griff um meine Schultern, weswegen ich mich fragend zu meinem Bruder drehte. „Bleib ruhig! Wir sind im 13. Stock!", warnte er mich nochmals, weswegen ich tief ein und ausatmete und anschließend über die Geländer kletterte und wenige Sekunde später bei Zümra auf dem Balkon stand.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt