5.Kapitel

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Zwei Tage später stehe ich in einem geliehenen Anzug in meiner Zelle und rücke mir den Kragen zurecht. Ich bin aufgeregt, obwohl ich weiß, dass man mich heute freisprechen wird, beziehungsweise auf Bewährung verurteilt. Die Richter sehen in ihren Roben und den Perücken immer so gruselig aus, dass ich es sicher gar nicht wagen werde, sie anzusehen.

Vorsichtig binde ich mir die Krawatte, doch der Knoten will einfach nicht sitzen und das Ende ist jedes Mal zu kurz. Frustriert schnaubend nehme ich sie ab und behalte sie in der Hand. Vielleicht finde ich ja später jemanden, der sie mir binden kann, nochmal mache ich das nicht.

Der Wärter holt mich ab und ich gebe mir große Mühe, unsicher und nervös auszusehen, obwohl ich weiß, dass ich heute definitiv nicht mehr hierher zurückkommen werde. Menzies hat es mir versprochen und wenn das MI5 das verspricht, wird es so geschehen. Das glaube ich auf jeden Fall.

Ein schlichter und unauffälliger Wagen holt mich ab.
Menzies sitzt bereits auf der Rückbank und erwartet mich. Er lächelt mild, als ich mich neben ihn fallen lasse und fragt: „Und, sind Sie nervös?" Ich zucke mit den Schultern: „Kommt die Presse?"

„Natürlich. Sie und Mr Tomlinson haben immerhin für ordentliche Schlagzeilen gesorgt. Wenn Sie wüssten, was hier los war, als das Verschwinden des Jungen bemerkt wurde. Alle hatten Angst um den Jungen, da wird man jetzt natürlich wissen wollen, wie der Prozess ausgeht."

Na toll. Darauf war ich jetzt nicht sonderlich scharf.

Menzies scheint das jedoch gar nicht schlimm zu finden. Ganz im Gegenteil: er wirft mir einen Blick zu und sagt schlicht: „Das spielt uns wunderbar in die Karten. Forster wird von Ihrer Verhaftung gehört haben und ich bin mir ziemlich sicher, dass er den Ausgang dieses Prozesses beobachtet und Sie im Auge behält."

„Sehr gut, so soll es ja auch sein", murmle ich und schnalle mich an, als der Wagen losfährt.

In wenigen Stunden bin ich wieder auf freiem Fuß und in Forsters Augen sicherlich eine leichte Beute.
Aber da hat er sich geschnitten. So leicht, wie er denkt, wird er es mit mir nicht haben. Wenn der Plan aufgeht, den das MI5 geschmiedet hat – und das sollte er – dann bin ich es am Ende, der gewinnt.
„Nicht zu weit voraus denken", ermahnt mich Menzies, der mir meine Gedanken wohl schon an der Nasenspitze angesehen hat. „Eines nach dem Anderen."

Ja, diese Regel muss ich mir auf jeden Fall noch besser einprägen, um die ganze Aktion nicht zu gefährden.

Zuerst einmal kommt eine andere Gefährdung auf mich zu - die Gefährdung meiner Haltung -  und zwar in Form von Louis, der gemeinsam mit seinem Onkel gerade die Treppe zum Gerichtsgebäude hinaufgeht, als wir ankommen. Kameras und Reporter stehen um die beiden herum und Mr Tomlinson gibt gerade ein Statement ab. Dabei legt er einen Arm um Louis' Schulter und macht ein sehr erleichtertes Gesicht. Louis kneift die Lippen zusammen und schaut nicht in die Kameras, sondern hebt den Kopf und sieht mich direkt an. Sofort sind meine Knie weich und zittrig und ich hoffe, dass ich es die Treppe hinauf schaffe, ohne zu straucheln.

„Denken Sie an den wunden Punkt", raunt mir Mr Menzies zu und ich senke schnell den Blick zum Boden, um Louis nicht direkt anzusehen. Hoffentlich denkt er jetzt, ich würde mich nur schämen, und nicht, dass ich ihn nicht sehen will. Denn das ist falsch.

Ich will ihn sehen.

Ich muss wissen, wie es ihm geht.

Louis und sein Onkel sind vor mir im Gebäude, bevor ich die halbe Treppe mit meinen weichen Knien hinter mich gebracht habe. Die Reporter wenden sich nun uns zu, doch ich gebe auf keine, der mir gestellten Fragen eine Antwort.
Stattdessen gehe ich geradeaus blickend, schnurstracks zwischen den Leuten hindurch zum Haupteingang. Niemand soll denken, dass ich Angst habe. Vor allem nicht Forster, sollte er diese Bilder zu sehen bekommen.

Thin Ice • Buch II (Two Hearts Reihe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt