2. Levi

276 47 9
                                    

Levi.

Oh kleiner Bruder, was soll ich nur sagen? Hätte ich gewusst, dass wir beide nur so wenig Zeit miteinander haben... warte, ich wusste es. Es tut mir einfach leid, das wollte ich sagen. Dafür, dass ich immer wusste, dass jeder Tag mein letzter hätte sein können, habe ich definitiv nicht genug Zeit mit dir verbracht, wie ich es eigentlich hätte tun sollen. Dafür muss ich mich entschuldigen. Aber vielleicht wollte ich dich irgendwie beschützen. Ich wollte nie, dass du mich so siehst. Schwach und gebrochen, nicht mal genug Kraft, um alleine aufs Klo zu gehen. Was für ein großer Bruder wäre ich denn, wenn ich kein gutes Vorbild für dich sein könnte?

Aber gut, das musste ich auch nie sein. Du hast immer gesehen, was du tun musst. Dein Leben war immer ein Höhenflug, du hast nie zurückgeblickt und dich gefragt, was gewesen wäre, wenn du anders gehandelt hättest. Mit solchen Nichtigkeiten hast du dich nicht ein einziges Mal befasst. Oder mit Ängsten und Schamgefühlen.

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem du dich mir geoutest hast. Du warst gerade mal dreizehn und trotzdem warst du von außen betrachtet immer älter. Vielleicht musstest du durch mich schneller Erwachsenwerden, ich weiß es nicht, aber auf jeden Fall weiß ich, dass ich nie stolzer auf dich sein könnte. Du hast dich einfach vor mich gestellt und gesagt, was Sache ist. Ich glaube nicht, dass es für dich so ein großes Ding war, aber für mich war es der erschreckendste Moment meines Lebens. Nicht erschreckend im negativen Sinne. Sondern erschreckend, weil ich mich so wachgerüttelt gefühlt habe. Du hast mir die Augen geöffnet und dabei bist du doch der kleine Bruder. Es fühlt sich einfach an, als hätten wie ständig die Rollen vertauscht.

Du hast immer gewusst, wer du bist und nie versucht, dich zu verstecken. Und du hast all die Sticheleien und Angriffe deiner Mitschüler ignoriert, hast sie an dir abprallen lassen, als wäre deine Haut aus Stahl. Niemanden aus der Familie hat es gestört, dass du schwul bist. Oder auch, dass du polyromantisch bist. Warum sollte es auch? Du hast uns immer erklärt, wie normal das alles ist. Wie normal du eigentlich bist und das es niemanden etwas angehen sollte, welche Sexualität man ausübt. Und du hast nicht nur bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich weiß nicht, ob Leon ohne dich je zu dem stehen würde, was er ist. Oder ob er wirklich so offen über alles sein würde, wenn du nicht wärst. Du hast ihm und mir und Mama und Papa und allen so viel gegeben, in dem du einfach nur das ausgesprochen hast, was wir alle wissen sollten. Du bist kein anderer Mensch geworden, nur weil du mit einem Jungen zusammen bist, statt mit einem Mädchen. Und du wurdest auch nicht weniger menschlich, als du jemanden gefunden hast, der ebenso wie du ist und mit dem du eine wunderbare Beziehung führen konntest.

Weißt du, ich war immer ein bisschen neidisch auf dich. Du lebst dein Leben vollkommen aus. Lässt dich nicht von solchen Kleinigkeiten wie der Meinung anderer aufhalten. Ich war nie wie du, obwohl ich es hätte sein sollen. Ich habe so viele verpasste Möglichkeiten in meinem Leben gehabt, einfach, weil ich nicht das ausgesprochen habe, was mir auf der Zunge lag. Oder weil ich gezögert habe, zu handeln. Oder weil ich nicht schnell genug reagiert habe.

Du hast gleich zwei Freunde. Und ihr drei seid wirklich sehr gut füreinander. Ich weiß nicht, wie, aber du hast es geschafft, nicht nur einen sondern gleich zwei Jungen in deiner Klasse zum Coming Out zu bewegen und dann sind sie auch noch mit dem polyromantischen Lebensstil einverstanden und leben ihn gemeinsam mit dir aus. Ich kann mich nur wiederholen, aber ich bin so unglaublich stolz, dass ich dein Bruder sein durfte.

Wenn ich an damals zurückdenke, als ich die Diagnose bekommen habe, dann frage ich mich immer noch, wie du es so gut verstehen konntest. Du warst gerade fünf und ich glaube, du bist erwachsener mit dem Thema umgegangen, als ich. Ich habe dich deswegen nicht ein einziges Mal weinen sehen. Du hast dich nie davor gefürchtet, dass ich sterben würde. Vielleicht hast du es nicht verstanden, keine Ahnung, aber auf jeden Fall hast du mir unglaublich geholfen. Weil du keine Angst hattest, wollte ich auch keine haben und dich verunsichern. Ich wollte nicht, dass mein kleiner Bruder wegen mir traurig sein würde, also habe ich oft so getan, als wäre gar nichts. Als hätte ich am morgen nicht schon wieder Blut gehustet.

Marchin OnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt