3. Leon

213 35 1
                                    

Leon,

ich musste lange überlegen, ehe ich mir sicher war, wie ich diesen einzigen und letzten Brief für dich beginnen sollte. Noch länger musste ich überlegen, ob ich dir überhaupt schreiben soll. Ich weiß nämlich nicht, wie du emotional so drauf bist, wenn du das lesen solltest und ich will nicht der Grund sein, wieso du wieder abrutscht... aber wie dem auch sei, es wäre dir gegenüber nicht fair, wenn ich dich deswegen auslassen würde.

Wenn du das lesen wirst, dann hat mich meine Krankheit letztendlich doch geholt und das Unvermeidliche ist eben doch eingetreten. Ich bin tot und ich weiß, es wird dich schwer treffen, auch wenn du es wahrscheinlich niemals zugeben wirst. Aber lass mich dir versichern, es ist nicht schwach, wenn du deswegen traurig bist. Ich würde mir eher Sorgen machen, wenn es dich komplett kalt lässt. Immerhin bist du doch wie ein Bruder für mich. Und ich weiß zufälligerweise, dass ich das für dich auch bin. Ich bin der große Bruder für dich, den du nie hattest und den du immer brauchtest und glaub mir, ich hätte mir keinen besseren, zweiten, kleinen Bruder wünschen können, als dich.

Du magst vielleicht nicht einfach sein und deine Macken haben, aber ich bin so froh, dass Levi dich damals mitgebracht hat. Wer hätte denken können, dass dieser kleine Junge, den mein Bruder angeschleppt hat, mir so wichtig werden können. Ich hätte meine Hand für dich ins Feuer gelegt und meine andere gleich abhacken lassen. Wirklich. Du bist mir unglaublich wichtig. Und wir haben nie darüber gesprochen, aber ich liebe dich wie einen richtigen Teil meiner Familie. Ich wusste immer, dass man einiges an Arbeit in dich stecken müsste, damit du aus deinem Tief herauskommst und gerade jetzt, wo es mit mir zu Ende geht, machst du großartige Fortschritte.

Klar, du bist noch immer recht verschlossen, was dich und deine Gefühle angeht, aber du hast wunderbare Freunde. Und wenn Levi nicht gewesen wäre, hättest du wahrscheinlich niemals den Mut gefunden, zu dir zu stehen, oder? Aber glaub mir, niemand von uns sieht dich nun anders, nur weil du bisexuell bist. Bisexualität ist genauso normal wie Homosexualität oder Heterosexualität und auch wenn wir alle ein bisschen gebraucht haben, um das zu verstehen, bin ich froh, dass du zu dir stehen kannst. Und du hast die Unterstützung in deinem Leben, die du brauchst, damit du auch weiterhin weitermachen kannst. Ich habe Luca zwar nie kennengelernt, aber er scheint ein guter Junge zu sein und so, wie du von ihm redest, scheint er dich ja wirklich glücklich zu machen. So jemanden solltest du immer nah an deinem Herzen halten. Versuch dich ihm langsam zu öffnen, dann wird es euch einfacher fallen. Ich wünschte wirklich, ich hätte ihn kennenlernen können, aber es reicht mir, wenn ich sehe, wie glücklich du wirkst, wenn du erzählst, was ihr unternommen habt. Ich bin stolz auf dich und freue mich wirklich für dich, Leon. Du verdienst es mehr als alle anderen, die ich kenne.

Da mein Raum zu Hause nun endgültig frei ist, kannst du ihn gerne beziehen, das weißt du. Meine Eltern haben nie etwas dagegen gehabt, als du bei uns gewohnt hast und ich glaube, Levi würde sich wirklich freuen. Ihr könntet euch gegenseitig helfen. Ihr würdet euch definitiv guttun, dessen bin ich mir sicher. Versuch es einfach. Du bist uns immer willkommen gewesen und auch, wenn du der Auffassung warst, dass du unsere Gastfreundschaft überzogen hast: Hast du nicht! Meine Eltern haben dich niemals als Gast angesehen. Du bist ein Teil der Familie. Als Levi dich mitgebracht hat, mussten sie dich adoptieren, sie hatten gar keine andere Wahl, aber sie haben sich nie beschwert. Sie lieben dich, glaub mir. Du hast niemals Ressourcen verschwendet oder was auch immer sich in deinem Kopf festgesetzt hast, als du abgehauen bist. Es war zwar umsichtiges Denken von dir, aber nur weil ich zu diesem Zeitpunkt wieder wirklich krank war, hieß das nicht, dass wir nicht genug Platz oder Geld oder Essen für dich hatten. Levi war am Boden zerstört, als du auf einmal nicht mehr da warst. Er hat es verstanden und dich trotzdem für einen kurzen Zeitraum gehasst. So ist das zwischen Brüdern nun mal, oder?

Marchin OnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt