22. Kapitel

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Ehe ich mich versah, berührten seine Lippen meine. Nur ganz sanft, wie die Berührung einer Feder. Ich küsste ihn zurück, dies mal heftiger und ohne Zurückhaltung. Oh, dieser Kuss war gut! Besser als Lukes ... - Momentmal, was?! Ich löste mich von Raphael und versuchte Luke zu verdrängen. Er hatte hier jetzt echt nichts zu suchen!
„Für einen Idiot kannst du ziemlich gut küssen.", sagte ich und schlang meine Arme um ihn.
„Ich weiß ..." Er lächelte mich an und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. „Du aber auch." Komisch, wo das doch eigentlich erst mein zweiter Kuss war ... Plötzlich versteifte er sich und versuchte, mich von ihm zu schieben.
„Du solltest lieber Abstand halten."
„Was?", rief ich verwundert und lachte halb dabei. „Wieso?"
„Ich ... rieche dein Blut ...", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ich wich etwas zurück und wurde blass. Mein Blut? Klar, er war ein Vampir und ernährte sich davon, aber wie konnte er meins, als Werwolf, gut riechend (oder so was) finden?
Er knurrte und bleckte seine Reißzähne. Ich schrie auf. Was war mit ihm los?! Eben war doch noch alles gut gewesen! Ich wich zurück bis ich mit dem Rücken gegen ein Bücherregal stieß, das daraufhin gefährlich knarrte. Von den haselnussfarbenen Augen war keine Spur mehr. Jetzt waren sie schwarz, kalt und leer. Was war mir ihm passiert? Das war doch nicht mehr Raphael. Nahezu röchelnd kam er auf mich zu. „Lia ..." Seine Eckzähne waren unnatürlich lang und spitz und ich konnte sie schon an meiner Haut spüren wie sie mir das Blut aussaugen würden.
„Raphael!", raunte ich. „Komm zu dir! Ruhig ... Es ist alles gut!" Beschwichtigend hob ich die Hände, doch er ignorierte mich. Was sollte ich tun? Weglaufen? - Und so eine Verfolgungsjagd anzetteln? Ganz toll. Schreien? - Zu dieser nachtschlafenden Zeit? Äh, besser nicht, außer ich wollte von Lehrern erwischt werden. Eins der Bücher nach ihm werfen? - Nein, das konnte ich nicht. Ich schloss meine Augen und atmete tief durch. Konzentriere dich, Lia! Werwolf, werde ein Werwolf! Ich versuchte mir mein Aussehen als Wolf vorzustellen und wie meine Hände und Beine sich zu Pfoten verwandeln würden. Als ich die Augen Sekunden später wieder öffnete, sah ich auf ... Pfoten hinab. Ich hatte es geschafft! Ich hatte mich aus eigenem Willen heraus in einen Werwolf verwandelt! Wenn doch nur Chris das jetzt sehen könnte - Er wäre stolz auf mich.
Ich fokussierte mich auf Raphael, der immer noch wie ein blutrünstiger Zombie auf mich zu kam. Er setzte zum Sprung an, den Blick auf meine Kehle gerichtet. Oh Gott, er schien besessen von meinem Blut zu sein! Selbst im Wolfszustand war er immer noch darauf aus. Ich sprang zuerst und riss ihn mit meinem Sprung zu Boden. Meine Vorderpfote versetzte ihm dabei versehentlich einen Hieb in den Arm. Er schrie vor Schmerz auf. Ich ergriff die Flucht und verwandelte mich, sobald ich aus der Bibliothek raus war wieder zurück in mein menschliches Ich. Ich rannte den Flur entlang zu meinem und Sams Zimmer. Scheinbar hatte uns niemand gehört. Was für ein Abend!

„Wo warst du denn so lange!", rief Sam und sprang von ihrem Bett, als ich das Zimmer keuchend betrat.
„In der Bibliothek. Es gab ... einen kleinen Vorfall.", japste ich und ließ mich auf ihr Bett fallen.
Sam setzte sich auf die Kante. „Aber wieso bist du gerannt und so nass geschwitzt? Ich dachte ihr wolltet reden?" In ihrem Gesicht sah man ein einziges Fragezeichen.
„Das haben wir auch zuerst. Dann haben wir uns, na ja, geküsst ..."
„Was?! Oh mein Gott, erzähl!", unterbrach sie mich direkt.
Ich wand mich verlegen. „Da gibt's nicht viel zu erzählen. Es war gut."
„Nur gut? Komm schon, war es mit Zunge? Nass? Mit extra viel Spucke?!" Sie kicherte.
„Was? Nein! Nein, nein und nochmal nein.", antwortete ich.
„Okay ... Also erzähl weiter, was kam dann?" Sie knibbelte aufgeregt an ihren Fingernägeln.
„Dann hat er auf einmal mein Blut gerochen und ist ausgerastet. Seine Augen wurden schwarz wie Kohle, oder so was, und er hat mich total kalt angeguckt." Bei dem Gedanken daran bekam ich eine Gänsehaut.
„Oh nein! Das hört sich ja grausam an! Lia, wir haben dir doch gesagt, Beziehungen zwischen Werwölfen und Vampiren funktionieren nicht! Das ist zu verrückt, zu gegensätzlich, zu gefährlich."
„Jaja", bremste ich ihren Redefluss. „Ich hab mich ja verwandelt. Ich weiß, du denkst jetzt: Was? Lia? Sich aus eigener Kraft verwandeln? - Niemals! Aber ja, ich konnte es wirklich! Ich hab ihm versehentlich einen Hieb in den Arm versetzt, als er geradewegs auf meine Kehle zu gesteuert ist und bin dann geflohen." Es hörte sich ziemlich krass an, jetzt, wo ich es erzählte.
„Oh, Lia. Du hättest sterben können! Das war leichtsinnig, sich so auf ihn einzulassen!", rief Sam. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Halt dich lieber von ihm fern. Der Typ ist kein guter Umgang."
Ich schluckte. Ja, da hatte sie wohl recht. Aber ich hatte keine Angst vor ihm. Nicht mal jetzt, nach dieser Aktion. Obwohl ich die vielleicht haben sollte ... „Ich geh ins Bett.", verkündete ich und stand auf. „Das war alles ein bisschen viel für heute."
„Okay, ist vielleicht besser so. Dann gute Nacht!", sagte sie und kroch unter ihre Decke.
„Gute Nacht!"

Als ich endlich in meinem Bett lag, dachte ich an Raphael. Ob es ihm gut ging? Vielleicht lag er mutterseelenallein in der Bibliothek und krümmte sich vor Schmerz? Obwohl, so hart war mein Stoß nicht gewesen. Oder doch? Nein, er war ein Vampir. Vampire waren unsterblich und haben nicht mal mehr ein Herz oder Blut im Körper. Also konnte er weder bluten, noch sterben. Außerdem heilten Schmerzen bei Blutsaugern relativ schnell ab. Zufrieden schloss ich die Augen. Hoffentlich war er nicht sauer auf mich oder hasste mich jetzt. Ich drehte mich auf die Seite. Wir würden morgen sowieso reden müssen. So konnte es nicht weitergehen, dass wir uns gegenseitig angriffen oder provozierten. Aber was sollte mit uns passieren? Sollten wir uns trennen? Waren wir überhaupt zusammen? Keine Ahnung. Aber ich konnte nicht ohne ihn! Ich wollte nicht ohne ihn! Nie mehr! Das war das Schlimme: Ich liebte ihn schon zu sehr, als dass ich ihn einfach so gehen lassen könnte.

Werwolfsnacht - Die Chroniken von IntoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt