Es war bereits dunkel, als Sylvie in ihre Wohnung kam. Sie schob den Koffer in die Küche und stellte sich dann selbst einmal unter die Dusche. Es war noch nicht ganz 10 Uhr abends, doch nach Sylvies innerer Uhr, die immer noch auf die Gegend um den Baikalsee eingestellt war, musste es bereits sechs Uhr morgens sein. Kein Wunder, dass sie so erledigt war. Sie war von Irkutsk über sechs Stunden nach Moskau geflogen, hatte dort in etwa genauso lange auf ihren etwa zweieinhalbstündigen Anschlussflug gewartet. Phasenweise war sie hundemüde gewesen und hatte im Wartebereich des Flughafens und im Flugzeug vor sich hingedöst. Dann hatte sie sich wieder zusammenreißen müssen, um nicht ihre gereizte Stimmung an den Moskauer Flughafenmitarbeitern auszulassen, die konnten schließlich auch nichts dafür.
Als sie aus der Dusche stieg, war sie zwar immer noch müde, gleichzeitig war sie immer noch aufgekratzt und ihr war nicht danach sich sofort ins Bett zu legen. Sie begann ihren Koffer auszuräumen und seufzte, beim Blick auf den Korb mit der Schmutzwäsche. Da lagen noch ihre Sachen aus Turin, die sie bei ihrem Zwischenstopp dort hinein geworfen hatte. Sie war nicht mehr dazu gekommen alles zu waschen. Also sortierte sie die Wäsche auseinander, nach Kleidungsstücken, die sie dringender, oder weniger dringend brauchte.
Während die Waschmaschine lief, griff sie nach ihrem Telefon und wählte die Nummer ihrer Mutter. Sie machte sich immer ziemliche Gedanken, wenn Sylvie auf plötzliche Expeditionen geschickt wurde und sie war natürlich froh zu hören, dass Sylvie wieder zuhause war.
"Willst du nicht mit Erik am Wochenende zu uns rauskommen? Alexander hat die Kinder da und das Wetter soll schön werden. Vielleicht könnt ihr sogar noch baden." Das hörte sich verlockend an. Ihre Mutter und deren Ehemann bewohnten ein geräumiges Haus am Rand der Stadt. Wenn man den Weg am Ende des Gartens überquerte, kam man direkt zum Ufer eines kleinen Sees, in dem man im Sommer baden, und um den man rundherumspazieren konnte.
Aus den siebenjährigen Zwillingen machte Sylvie sich hingegen nicht viel. Sie wusste mit Kindern nichts anzufangen. Im Gegensatz zu Erik, der unermüdlich mit den beiden draußen herumtollte. Manchmal saßen sie sogar zu dritt am Klavier und er brachte ihnen irgendwas bei. Sie wunderte sich darüber, dass ihm dabei nicht die Ohren abfielen. Aber es hatte wohl einen Grund, weshalb sie nie unterrichtet hatte, wie so viele ihrer Kollegen es taten. Selbst Erik hatte ein paar Privatschüler, auch wenn er einen Teil von ihnen letzten Winter an Kollegen abgegeben hatte. Man musste es aushalten können, Anfängern immer wieder zuzuhören, sie ausreichend zu loben und deren Fehler zu verbessern. Diese Geduld war ihr gewiss nicht gegeben.
Sie rief Erik an, der, wie sich herausstellte, bereits andere Pläne für das Wochenende hatte. Sie befragte ihn noch einmal über sein Konzert in Turin, und er schien damit, alles in allem, recht zufrieden. Er wollte wissen, wie ihr Einsatz am Baikalsee verlaufen war, und sie gestand ihm, dass sie mit dem Ergebnis weniger zufrieden war. Die Sache hatte sich recht mühsam und unergiebig gestaltet. Um einige der richtig interessanten Punkte zu recherchieren, hätte sie wesentlich mehr Zeit gebraucht, als die Redaktion bereit gewesen war ihr zu geben. Sie verabredete sich sich lose mit Erik für einen der kommenden Tage.
Zum Schluss meldete sie sich noch bei Vincent, den sie seit Wochen nicht zu Gesicht bekommen hatte. Eigentlich hatte sie am gleichen Abend noch bei ihm vorbeischauen wollen. Allerdings hatte sie eingesehen, dass das ein sehr optimistischer Plan gewesen war. Sie wollte Vincent ausgeschlafen und besser gelaunt gegenübertreten und so verabredeten sie sich für den nächsten Tag zum Frühstück in einem Café in der Nähe der Redaktion.
Sylvie fühlte sich immer noch erschöpft und nicht ganz zuhause angekommen, als sie am nächsten Morgen aufwachte. Aber es war ein gutes Gefühl, zu wissen, dass nun alles wieder in seinen gewohnten Bahnen gehen würde. Sie hatte seit langem wieder in ihrem eigenen Bett geschlafen, trank den von ihrer verlässlichen Espressomaschine gebrauten Frühstückskaffee und las dabei gemütlich die Zeitung. Ganz so wie es ihrer Gewohnheit entsprach.
Nach dem Aufwachkaffee machte sie sich fertig und radelte zu ihrem Frühstück mit Vincent. Sie begrüßten einander unaufgeregt und ohne jede unnötige Gefühlsduselei. Dann plauderten sie bei Kaffee und Brötchen, als hätten sie einander erst gestern zuletzt gesehen. Sie schilderte ihm die Vorzüge Turins und der italienischen Küche, aber vor allem ihr Abenteuer am Baikalsee, wenn man es ein Solches nennen wollte. Sie hatte täglich Berichte, Interviews, Analysen und Bilder an die Redaktion gemailt und daneben, noch für zwei andere Reportagen recherchiert. Über die aktuellen Entwicklungen von Industrie und Bauprojekten im Zusammenhang mit Landschafts- und Umweltschutz in der Gegend, sowie über die Errichtung eines neuen Weitwanderweges, der irgendwann um den gesamten Baikalsee führen sollte. Nur einen Augenblick lang, dachte sie daran, wie es wäre jetzt zusammen mit Karina in Turin auf dem Balkon zu sitzen. Doch auch Karina war mittlerweile gewiss nach Hause gefahren.
"In der Redaktion verändert sich gerade so einiges", erzählte Vincent. "Der neue Verlagseigentümer will den Betrieb anscheinend kosteneffizienter führen." Er hob skeptisch die Augenbrauen und fuhr sich mit der Hand über die Haare, die bereits wieder ein dichtes, lockiges Fell auf seinem Kopf bildeten, mit einigen grauen Strähnen dazwischen, die ihm ganz gut standen. Sie ahnte, dass spätestens in den nächsten paar Tagen ein Haarschnitt fällig war. Er versuchte seine Haare immer so kurz, wie möglich zu halten, um dem lockigen Wildwuchs Einhalt zu gebieten. Das war pflegeleichter und er schien der Meinung zu sein, dass er damit einen seriöseren Eindruck machte. Und vermulich hatte er damit Recht. Als Innenpolitikredakteur mit Ambition auf den Chefposten, wollte er nicht daherkommen wie so ein aus Christiania weggelaufener Hippie. Auf seinen alten Fotos mit den längeren Haaren, sah er nämlich wie genau so einer aus.
"Was wollen die großartig ändern?", fragte Sylvie verwundert. "So wie es jetzt ist, läuft es doch gut." Immerhin hielt sich Danmarkspressen trotz Printkrise sehr gut und war nach wie vor eine der meistverkauften Tageszeitungen des Landes.
"Anscheinend sehen die Bilanzen nicht ganz so toll aus. Also falls in den nächsten Tagen ein paar Überraschungen auf dich zukommen, so habe ich dich zumindest gewarnt." Sylvie nickte unbeeindruckt und biss von ihrem mit Käse und Gurken belegten Brötchen ab. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie das betreffen konnte. Vielleicht würde man sich in Zukunft zuerst überlegen, ob man Kollegen aus dem Urlaub holte, um sie einer Geschichte hinterherreisen zu lassen, die einem ohnehin nicht interessant genug für eine ausgiebige Recherche war.
Sie betraten zusammen das Redaktionsgebäude und als Birk Hedeby, der Portier sie sogleich freudig begrüßte, ahnte sie sofort, dass dies wohl nicht nur der Wiedersehensfreude geschuldet war.
"Sylvie! Gut, dass du da bist. Der Chef hat mich vor einer halben Stunde angerufen. Er lässt ausrichten, dass er dringend mit dir sprechen will."
"In Ordnung", sagte sie. Sie hatte ohnehin vorgehabt gleich bei Jesper vorstellig zu werden, um sich zurückzumelden. " Außerdem wollte sie ihm gleich berichten, wie die Sache am Baikalsee gelaufen war. Dazu gab es einiges an Gesprächsbedarf. Die Blicke, die Vincent und Birk einander zuwarfen, entgingen ihr allerdings nicht.
"Was ist mit euch? Gibt es irgendwas, das ich wissen sollte?"
Birk schüttelte nur den Kopf und Vincent sagte: "Jesper war in letzter Zeit nicht besonders gut gelaunt ..."
"Meinst du etwa, ich soll Angst haben?", fragte Sylvie und lachte. Angst haben, wenn sie zum Chef bestellt wurde, das hätte ihr gerade noch gefehlt.
"Natürlich nicht", antwortete Vincent. "Fahr einfach rauf, dann wird er dir schon sagen, was er will."
Sylvie sah ihn einen Moment lang an. "Genau das habe ich auch vor", sagte sie, und sie betraten den Lift.
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Das Schicksal spielt in Dur und Moll
Aktuelle LiteraturManchmal kommt alles anders als man denkt. Eine unerwartete Begegnung. Ein Blinzeln. Ein Moment des Glücks. Und plötzlich ist nichts mehr wie es war. Du sammelst die Scherben von etwas ein, von dem du dachtest es sei ganz und heil. Warum hast du die...