Ankommen, Leben, Überleben (Teil 1)

284 5 1
                                    

1. Sobald Eltern, Erziehungsberechtige oder andere Personen, die euch hingebracht haben, weg sind, auf keine Fall anfangen zu weinen, zu schluchzen, ja auch nur traurig zu gucken. Ca 10-15Minuten nach dem Bezug des Zimmers kommt mindestens eine Schwester gucken, wie es einem geht (es sei denn, die haben gerade sehr viel zu tun oder sind in einer Übergabe). Wenn sie fragen, ob man Heimweh hat, kommt man am besten mit der Antwort, man wäre schon gerne zuhause, aber will ersteinmal gesund werden.
2. Vor allem in Psychatrien kommt nicht nur eine Schwester, sondern meist mehrere. Nicht wundern oder gar protestieren, wenn diese dich auf der Station so vertraut willkommen heißen als seist du ihr neues Pflegekind. Die tun nur so. Am besten, man spielt das Spiel erstmal mit, versucht, zu seiner "Bezugsschwester" oder wie auch immer es in der jeweiligen Einrichtung genannt wird, ein möglichst gutes Verhältniss zu wahren, auch wenn sie der größte Drachen ist. Dennoch sollte man nie vergessen, das diese Freundlichkeit und Fürsorge zu 99.9% nur gespielt ist, nach Feierabend wollen die nix mehr von euch wissen. Wobei sie natürlich trotzdem schon beim Essen oder bei Übergaben über die Patienten herziehen.
3. Wie sicher schon rauszulesen war, das wichtigste ist Schauspielern. Ich habe damals komplett alle Emotionen abgelegt, bin einfach nur mit neutralem Gesichtsausdruck durch die Gegend gelaufen, egal was war. Wenn ihr euch für diesen Weg entscheidet, dann müsst ihr ihn auch bedingungslos durchziehen. Wenn also z.B. die beste Freundin zu Besuch ist und euch den neuen Manga eurer Lieblingsmangaka mitgebracht hat - nicht jubeln, nicht freuen, einfach nur ein emotionsloses "Danke" reicht. Eure Freundin könnt ihr über euer Schauspiel zu geeigneter Zeit aufklären, draußen, außerhalb des Klinikgeländes am besten, den vergesst nie Paragraph eins: ihr seid nie unbeobachtet und ungehört. Zieht ihr dieses Emotionslose Mienenspiel durch, beißen sich sämtliche Psychologen an euch die zähne aus und schreiben resigniert in die Krankenakte "kein Zugang". Dennoch, sie sind hartneckig, also bleibt ihr das auch, egal was sie euch erzählen. Andernfalls, und das ist die riskantere Variante,
4. Wenn ihr nicht raus könnt/dürft, und unbedingt etwas in einem Raum mitteilen müsst, macht unauffälligen Krach. Raschelt mit Tüten, klappert in den Schränken, etc, und redet leise, am besten dem anderen direkt ins Ohr, die wichtige Info. Die Schwestern sollten so über ihr sonst so hoch gelobtes Mikro nur die Störgeräusche hören.
5. Eure Ohren ersetzen alle Sinnesorgane. Ihr seid in eurem Zimmer praktisch gefangen, abgeschnitten von der Außenwelt. Wer aber bei seiner verbotenen Morgengymnastik oder dem Genuss des verbotenem Hackepeterbrötchens (das Beispiel muss ich mir mal von einer Mitpatientin der Kinderstation klauen) nicht von Schwestern, Pflegern, Ärzten und co erwischt werden will, der habe immer ein Ohr auf dem Gang. Mit etwas Übung erkennt man jedes Personal am Gang und weiß auch, wo sie sich gerade befinden. Sollten sie sich dem Zimmer nähern, natürlich sofort alle verdächtigen Handlungen einstellen, braven Patienten spielen und sich nix anmerken lassen - scheißfreundlich, wie zu dem Mathelehrer, den man nie leiden konnte, den man aber noch zu einer 4- in der Klausur überreden muss. Aber Achtung: auch das Personal ist nicht dumm, im Gegenteil. Manche Leute haben einfach einen leisen Gang, andere, v.a. in Psychatrien, schleichen extra, damit man von ihnen möglichst überrascht wird. Da hilft nur, die Ohren noch mehr zu spitzen.
6.Reinigungskräfte sind angenehmes Personal, zumindest meist. Es lohnt sich, allerdings mit größter Vorsicht, herauszubekommen, wie sie zu dieser Station stehen. Wenn ihr viel Glück habt, habt ihr in ihnen einen Gesprächspartner. Das gleiche gilt für Pfarrer. Jede Klinik hat einen Gottesdienst, meist Sonntag früh, ab und an gibts auf Station auch eine Art Gemeindestunde oder sowas. Denkt nicht, das sich alle Pfarrer sich an ihre Schweigepflicht dort halten, aber so ein Gottesdienst z.b. ist eine gute Variante, von der Station mal eine Stunde weg zu kommen. Therapeuten müssen es zähneknirschend wenn medizinisch nicht absolut etwas dagegen spricht, genehmigen, die Schwestern werden euch schäumend vor Wut begleiten müssen.
7. Essen. Erwartet keine 4 Sternekost, stellt euch einfach Schulessen vor, nur noch etwas schlimmer. Guten Appetit. Aber man ist ja vorbereitet: Zum Frühstück bestellt immer 2 Brötchen, auch wenn ihr sonst nie frühstückt, im idealfall süß, denn die abgepackten Portionsnäpfchen von Honig, Marmelade und Schokocreme (eure wahrscheinlich einzigste Schokiquelle, teilt es euch ein) halten auch ohne Kühlung recht lang, und esst diese, wenn Mittag oder Abendbrot mal wieder ungenießbar sind oder ihr so zwischendurch Hunger habt. Das Mittagessen ist meist das ungenießbarste vom Tag, auch wenn ihr eigentlich etwas leckeres bestellt habt, kann es der größte Reinfall werden. Aber ihr könnt vorbeugen: aller 4 Wochen wiederholen sich die Gerichte, also fragt andere Patienten, die schon lange da sind, wie das jeweilige Gericht ist. Sagt euch gar nix auf der Karte zu, kann die Küche auch immer eine Art Notessen schicken, meist sind das Nudeln mit Ketchup oder Eierkuchen mit Marmelade und Zucker. Solltet ihr eine Laktoseintoleranz haben, bestellt nicht unbedingt das Laktosefreie - es könnte Sondennahrung von der Küche kommen, zwar frisch gekocht, schmeckt aber trotzdem wie erbrochenes. Apropos, gerade beim essen in Gemeinschaftsräumen empfehlenswert, sollte man den Teller immer zur Not, sollte jemandem am Tisch schlecht werden, wegziehen können, denn kotzt dieser auf euer Essen, war es das mit Mittag für diesen Tag. Nur mit großem Glück ergattert man Restessen, die an bereits entlassene Patienten geliefert wurden. Zum Abendbrot empfiehlt sich alles außer dem Igilit-Mischbrot, dazu am besten Frischkäse oder Pflanzencreme, wenn man keinen Schuhsolenkäse möchte. Sollte man zwischendurch doch mal Hunger haben, die meisten Stationen haben diese abgepackten Kekse/Muffins vom Kaffe (meist dort Vesper genannt) da, genauso wie Zwieback. Wenn sie nett sind, rücken sie Schwestern ein paar Sachen aus der Stationsküche raus, wenn nicht, muss man sich während einer übergabe halt selbst versorgen, Kekse klauen klappt auch samt Infusionsständer...

---weiter in Teil 2---

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 07, 2018 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Krankenhaus-ÜberlebensratgeberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt