23. Kapitel

2K 72 8
                                    

„Oh Gott, Sam! Dahinten ist er!" Angsterfüllt klammerte ich mich an ihren Arm. Wir standen in der Mensa und es war Mittagspause. Hungrige Schüler drängten sich an uns vorbei.
„Ganz ruhig. Er ist bestimmt nicht böse! Geh einfach mal zu ihm rüber.", meinte Sam seelenruhig.
Ich stöhnte. Ich war Raphael schon seit gestern aus dem Weg gegangen. Beim Frühstück war ich sicherheitshalber gar nicht erst aufgetaucht, im Gang hatte ich mich vorsichtig nach ihm umgesehen, um mich im Ernstfall zu verstecken, und vorhin beim Werwolfunterricht hatte ich mich kaum konzentrieren können. Peinlich.
„Na los!" Sam stupste mich auffordernd an. „Es wird schon nicht so schlimm."
„Okay.", murmelte ich und straffte die Schultern. „Ich mach's. Ich gehe jetzt zu ihm hin."
„Super! Du schaffst das!" Sie klatscht in die Hände. Ich warf ihr einen entnervten Blick zu und sie hörte beleidigt auf.

Mit großen Schritten ging ich auf Raphael zu, der gerade beim Buffet stand. Er stand mit dem Rücken zu mir. Ich atmete einmal tief durch und tippte ihm auf die Schulter. „Hi!"
Er drehte sich langsam um. „Hallo, Lia." Okay ... Er hörte sich leicht sauer an.
„Ich dachte, wir ..." Oh Gott, das war schwerer als erwartet! Ruhig bleiben! „ ... wir könnten über gestern Abend reden. Das mit dem Schlag auf deinen Arm, das war unabsichtlich. Ehrlich! Ich musste mich zu meinem eigenen Schutz verwandeln, sonst wäre wer weiß was passiert. Du warst wie verändert ..."
„Ja, das passiert nun mal, wenn wir Blut riechen.", unterbrach Raphael mich.
„Ich weiß, aber es sah so aus, als ob du mich angreifen wollen würdest." Ich kam mir so unbeholfen vor, wie ich versuchte mein Verhalten zu verteidigen. Musste ich das überhaupt?
„Und dann musstest du mich niederstoßen?!" Er wirkte gekränkt.
„Was blieb mir denn anderes übrig? Es sah aus, als wolltest du mich umbringen!", zischte ich, damit die umstehenden Leute es nicht hörten.
„Als ob ich das je tun könnte. Ich hatte mich nur kurz nicht unter Kontrolle!", raunte er leise. Na klar, kurz nicht unter Kontrolle ... Er war fast ausgerastet!
„Sicher, du warst ein blutrünstiges Monster!" Ich stockte. Mist! Das hätte ich besser nicht sagen sollen. „Ich ... Das war nicht so gemeint! Tut mir leid, ich nehm alles zurück!"
„So siehst du mich also, als Monster?" Er sah auf mich herab. Am liebsten hätte ich geheult. Von wegen das hier würde schon nicht so schlimm werden. Es war schlimmer, als ich es mir je hätte träumen können! „Lia, vielleicht sollten wir das beenden." Was? Nein!
„Nein! Raphael, lass es mich erklären, ich sehe dich nicht als Monster. Nur in diesem Moment warst du nicht ...", versuchte ich das Ruder herumzureißen.
„In diesem Moment war ich ein Vampir. Das ist nun mal meine Natur. Es tut mir leid, dass ich mich nicht unter Kontrolle hatte, aber so bin ich normalerweise bei Blut. Verstehst du? Ich muss in deiner Gegenwart und in der von Hexen immer an mich halten, um nicht so zu werden.", sagte er.
„Wieso nur bei mir? Ich bin doch gar keine Hexe", fragte ich verwundert.
„Weil ich dich liebe!" Er verschränkte die Arme. „Bei der Geliebten, auch wenn sie vom Feind, dem Werwolf, stammt, kann es zu solchen Reaktionen kommen." Oh, das hatte ich nicht gewusst. „Wir sind nicht gut für einander. Nicht für einander geschaffen." Was redete er da?
„Was? Aber ... Das war nur ein Vorfall!", protestierte ich. „Ich hab keine Angst vor dir! Und du auch nicht vor mir, also wo ist das Problem?"
„Es ist schon zwei mal passiert", korrigierte er mich. „Und das in nur einer Woche! Wir sind nicht gut für einander", wiederholte Raphael und wandte sich wieder dem Buffet zu. Sollte es das gewesen sein? Nein, nicht mit mir.
„Na und? Wer sagt, dass wir das nicht hinkriegen?"
„Ich. Und du solltest das auch. Wann haben Beziehungen zwischen Werwölfen und Vampiren jemals funktioniert?" Er sah mich zweifelnd an.
„Du willst also Schluss machen?" Ich schluckte.
„Besser jetzt, als wenn es zu spät ist. Ich liebe dich, Lia, aber diese Beziehung kann nun mal nicht klappen. Wir sind zu unterschiedlich." So sah er das also. Trotzdem lag Trauer in seinem Blick, aber was bedeutete schon Trauer, wenn er sagte, dass er sich trennen wollte.
„Schön." Ich drehte mich um und ging. Wenigstens hatte er nicht die Freunde-bleiben-Karte ausgepackt.

Eine Stunde später saß ich mit Sam, Rosa und Mary-Ann in der Bibliothek und machte Hausaufgaben, beziehungsweise versuchte es, obwohl meine Gedanken nur um Raphael kreisten.
„Versteht ihr diese Aufgabe in Chemie?", fragte Rosa und stürzte ihren Kopf in die Hände. „Ich check das nicht."
Sam beugte sich zu ihr, um es ihr zu erklären. Ich kritzelte kleine gebrochene Herzen auf meinen Zettel und schrieb auf einer Seite L. und auf der anderen R. hin. So endete die traurige Liebesgeschichte ...
„Denk nicht darüber nach!", versuchte Mary-Ann schließlich mir zu helfen. Die drei hatten natürlich von meiner Trennung gehört. Äußerlich waren sie nett zu mir und trauerten mit mir, aber innerlich dachten sie sich wahrscheinlich: „Hab ich's doch gewusst!" Und sie hatten recht. Ich war dumm und naiv gewesen. Wie ein Kind. Erst eine Woche hier und schon zwei Küsse von zwei unterschiedlichen Jungs bekommen, eine Beziehung gehabt und eine Trennung erlebt - Glückwunsch, Lia! Ich stöhnte leise. Mein Leben war vorbei! Dieses Schuljahr, die gesamte Schulzeit saß ich noch hier fest, Mom und Emily Meilen, sogar Welten (wortwörtlich), entfernt und ich hier. Draußen lungerte ein Vampir herum, der einen Schüler holen wollte und wir konnten nicht raus. Sollte er doch mich holen. Konnte man sich auch freiwillig melden? Wenn ja, würde ich es ohne zu zögern tun. Was hielt mich noch hier? Sam, die anderen, gut, aber der Unterricht, der Alltag und die Arbeiten - Toll. Unter den Mängeln von diesem Vampir würde es auch nicht viel schlimmer sein.
„Vielleicht solltest du dich etwas ablenken, statt hier stumpf rumzusitzen.", schlug Rosa vor und riss mich somit aus meinen Gedanken. Ja, wieso nicht. „Du könntest im Trainingsraum ein paar Schläge machen." Stimmt, das hatte ich ja schon letztens versuchen wollen und war dann Raphael über den Weg gelaufen. Vergiss ihn, vergiss ihn, vergiss ihn!
„Okay, gute Idee!" Ich nahm meine Sachen. „Bin dann mal weg!"
„Viel Spaß!", ertönte es dreistimmig hinter mir.

Werwolfsnacht - Die Chroniken von IntoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt