H E N R Y
Leise Geräusche dringen zu mir durch und verwirren mich im ersten Moment völlig. Doch dann kann ich das Piepen an meinem rechten Ohr wiedererkennen. Es bringt mich in die Zeit zurück, als bei Dad eine Not-Op durchgeführt werden musste. Er hatte sich damals bis zum letzten Moment Zeit gelassen und sich dadurch einen Blinddarmdurchbruch eingehandelt. Seit dem Vorfall frage ich mich nicht mehr, von wem ich meine Halsstarrigkeit geerbt habe - die kommt nämlich hundertprozentig von der Seite meines Vaters.
Um zurück zu dem Piepen zu kommen... . Es hört sich an wie eines dieser Geräte, die deinen Herzschlag und andere Funktionen deines Körpers überwachen. So eines hatte Dad nämlich neben seinen Bett stehen. Seitdem ich dieses Gerät ungefähr eine Woche lang jeden Tag ungefähr ein bis drei Stunden gehört habe, kommt dieses Geräusch in meinen eher weniger schönen Träumen vor. Ich habe wirklich keine Ahnung, was mir das über meine Psyche oder was auch immer sagen soll, aber ich mag dieses Geräusch rein generell überhaupt nicht mehr.
Aber warum höre ich dieses Piepen, träume ich gerade, oder bin ich in einem Krankenhaus? Aber warum sollte ich in einem Krankenhaus sein? Was ist überhaupt passiert? Das letzte woran ich mich erinnern kann ist, dass ich mit meiner Familie darüber geredet habe, wie ich Vinnie am besten meine Gefühle ihm gegenüber beichten kann. Danach ist irgendwie alles sehr verschwommen und verwirrend. Aber die wichtigste aller Fragen in diesem Moment ist, warum zur Hölle nochmal kann ich meine Augen nicht öffnen oder meine Beine und Arme bewegen?!
Was verdammt nochmal ist hier los?
»Er sieht irgendwie erschöpft aus«, höre ich plötzlich die Stimme meiner Stiefmom, die mich aus meinen Gedanken reißt.
»Ja, ich glaube es hat ihn doch mehr zu schaffen gemacht, Henry so zu sehen, als er selbst es vermutet hat«, antwortet Trevor ihr.
Wem hat es zu schaffen gemacht mich zu sehen? Und warum überhaupt?
»Vermutlich hat er es all die Jahre verdrängt, was in ihm in dieser Zeit vorgegangen ist«, höre ich nun auch meinen Dad.
»Komm' setz' ihn auf meinen Schoß. Ich glaube, es tut ihm gut, wenn er jemand vertrauten hat, an den er sich lehnen kann«, spricht Trevor sanft, woraufhin ein zustimmender Ton erklingt.
»Hier, sei aber vorsichtig mit ihm. Henry würde dich umbringen, wenn du ihn irgendwie zu Boden fallen lässt«, antwortet Dad ihm, worauf Stille im Raum einkehrt.
»Es muss ihm furchtbar gehen«, flüstert plötzlich Linda, die ich bis jetzt noch nicht einmal in dieser Unterhaltung gehört habe.
Immer noch frage ich mich, was hier los ist, denn ich habe einfach keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat.
»Ja, vor allem, wenn man bedenkt, was mit seinen Eltern passiert ist. Immerhin haben sie noch einige Tage im Koma gelegen, bevor sie starben«, höre ich Dad ganz nah neben mir sagen. »Du musst Vincent und uns jetzt beweisen, dass du stärker als seine Eltern bist, hast du mich verstanden, mein Sohn?«
Halt stopp Mal! Ich liege im Koma?! Wie geht das? Ich kriege doch alles mit, was sie hier bereden! Geht das überhaupt? Ich habe noch nie von so einem Fall gehört, das kann aber auch daran liegen, dass ich mich bis jetzt eher weniger mit soetwas befasst habe. In diesem Moment verfluche ich mich zwar dafür, aber wie hätte ich auch bitteschön wissen sollen, dass ausgerechnet mir Mal soetwas wiederfährt? Ich meine, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet du, einer von siebeneinhalb Milliarden Menschen, in diese Situation kommst? Ich würde sagen, dass das eine sehr geringe Chance ist - auch wenn ich ein totaler mathematischer Reinfall bin, ist mir das dann doch klar.
Und plötzlich fällt mir auch wieder ein, was passiert ist. Brad ist mit zwei anderen Typen in die Bank gekommen und hat uns von seinen Kumpanen abknallen lassen, weil er keine Zeugen haben wollte. Naja, also mehr oder weniger halt. Aber wer ist bitte auch so dummköpfig und nimmt seine Skimaske ab? Was hat das bitteschön für eine Logik, wenn man nicht erkannt werden will? Naja, anscheinend wollte er aber,dass ich ihn erkenne und weiß wer dafür verantwortlich ist, dass ich plötzlich in höheren Sphären wandle.
Sein Plan scheint allerdings etwas schief gelaufen zu sein, wenn ich das mal so anmerken darf.
Und nochmal stopp! Vinnie ist hier und liegt nun in den Armen von Trevor? Am liebsten würde ich Trevor umbringen. Er weiß ganz genau, dass ich es nicht mag, wenn er Vinnie so nah kommt. Außerdem will ich nicht, dass Vinnie bei ihm ist, er soll hier bei mir liegen. Ich höre mich jetzt bestimmt zwar wie ein Kleinkind an, aber ich kann es halt nicht auf den Tod ausstehen, wenn irgendjemand außer mir Vinnie so nahe kommt. Verdammt ich will wieder Herr über meinen eigenen Körper sein, sonst dreh' ich hier noch durch! Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt, oder?!
Das Piepen neben meinem Ohr wird etwas schneller, während ich mich immer noch über meine Bewegungsunfähigkeit aufrege, was meiner Familie anscheinend auch auffällt. Aber was soll ich auch machen, wenn ich hier einen halben Wutanfall hinlege?
»Ist das ein gutes oder schlechtes Zeichen?«, fragt Christa in den Raum, doch niemand antwortet ihr. Aber das kann selbst ich ihr nicht sagen, weil ich selber nicht weiß, was ich von dem ganzen hier halten soll.
Dann erklingt plötzlich ein Wimmern, das die anhaltende Stille durchbricht und mich aufhorchen lässt. Dieses Geräusch kenne ich, das ist Vinnie. Immer wenn er Albträume hat, gibt er diesen Laut von sich. So ein Mist! Es bricht mir das Herz ihn so zerbrechlich zu wissen, ohne ihm helfen zu können.
»Hey, alles ist gut, Vinnie«, flüstert Trevor ihm scheinbar zu.
»Henry?«, fragt Vincent schlaftrunken, schluchzt dann aber auch sofort auf, als er anscheinend meinen Bruder erkennt.
Kurze Zeit später spüre ich, wie eine Hand mir sanft über die Stirn streicht und so die lästigen Fransen meines Haares wegstreicht.
»Ich wünschte, ich könnte ihm helfen«, haucht Vinnie und klingt so unglaublich traurig, dass ich ihn am liebsten in den Arm nehmen wollen würde - wenn ich Herr meiner Sinne wäre, würde ich dies auch ohne zu zögern tun.
»Das kannst du«, sagt Dad und scheint zu Vinnie zu gehen. Ich kann förmlich spüren, wie er Vinnie seine Hand auf die Schulter legt und beruhigend zudrückt. »Die Ärzte haben gesagt, dass er es vielleicht unterschwellig mitbekommt, wenn wir mit ihm reden. Du kannst also gerne jederzeit herkommen und mit ihm sprechen, wenn du das Bedürfnis dazu hast.«
Wenn ihr nur wüsstet... . Von wegen unterschwellig, dass ich nicht lache - was ich ja auch verdammt nochmal nicht kann! Ich kriege alles mit, was ihr hier so besprecht. Ich an eurer Stelle wäre also lieber vorsichtig mit dem, was ihr so sagt.
»Danke«, flüstert Vinnie, worauf ich spüre, wie er meine Hand ergreift und sie fest drückt - ein Kribbeln zieht sich von meiner Hand zu meiner Magengegend und meinem Herzen, was mehr als angenehm ist. Meinetwegen kann er so für immer neben mir stehen bleiben - mir gefällt dieses Gefühl nämlich sehr gut. »Ich vermute, dass ich öfters her kommen werde.«
Es wird wieder still um mich herum, nur das Piepen von den Geräten neben mir ist zu hören. Durch Vinnies Anwesenheit schlägt mein Herz tatsächlich etwas schneller und kräftiger, als zuvor noch. Doch was soll ich auch machen? Es schlägt nun einmal für ihn und das schon seit geraumer Zeit... . Auch wenn mir dies erst seit kurzem bewusst ist, so kann ich diese Tatsache doch nicht mehr ändern.
»Christa, geh' du mit den Kindern schon einmal vor und sucht euch etwas zu Essen aus. Ich würde gerne mit Vincent unter vier Augen sprechen«, durchbricht Dad wieder die Stille, worauf die Schritte meiner Familie erklingen und dann das leise Schließen der Tür. »Vincent, ich möchte dich jetzt nicht beunruhigen, aber die Polizei hat durch das Befragen der weniger stark verletzten herausgefunden, dass Henry sich mit dem Kopf der Bande unterhalten hat.«
»Aber... warum hat er das getan?«, fragt Vinnie verwirrt nach. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie sich seine Stirn kräuselt, wie auch seine Nase, und würde am liebsten schmunzeln, weil er immer total süß aussieht, wenn er über etwas verwirrt ist.
»Die Befragten haben ausgesagt, dass er wohl den Anführer kannte. Leider kann man kein richtiges Phantombild von ihm anfertigen, weil sich wohl bei allen irgendwie unterschiedliche Personen ergeben. Aus psychologischer Sicht eine ganz normale Reaktion auf diese Situation, aber weniger hilfreich für uns und die Polizei in vielerlei Hinsicht.«
»Ich verstehe das nicht. Wie wahrscheinlich ist es bitteschön, dass Henry den Bandenanführer kennt? Und vor allem, warum sollte derjenige ihn dann gleich drei Kugeln in den Körper jagen?«
Ein Brummen ertönt, bevor ich jemanden im Zimmer hin und her laufen höre. Das ist eindeutig Dad, er macht das wann immer ihn eine sehr knifflige Frage quält, auf die er einfach keine Antwort findet.
»Genau das frage ich mich auch schon die gesamte Zeit!«, sagt Dad - ich kann mir bildlich vorstellen, wie er die Arme in die Luft reißt und dann nachdenklich weiter herum läuft. Wäre ich Herr über meine Gesichtszüge, dann würde ich nun wieder hundertprozentig schmunzeln müssen. Bei Dad sieht es einfach nur ulkig aus, wenn er sich so in Rage redet - und läuft, in seinem Falle.
»Ich raff' rein gar nichts mehr«, gesteht Vinnie meinem Vater und lässt sich anscheinend auf einen Stuhl fallen, zumindest hört es sich so an, als würde er dies tun. »Gibt es denn keine Sicherheitskameras in dieser Bankfiliale?«
»Doch, doch«, sagt Dad und scheint kurz inne zu halten. »Diese Räuber haben aber gerade die als erstes ausgeschaltet. Und mit ausgeschaltet, meine ich zerschossen.«
Ja, das kann ich dir bloß bestätigen, alter Herr. Das waren drei sehr treffsichere Zeitgenossen, die da am Werk waren.
»Also keine Chance diesen unbekannten Bekannten und seine Bande zu identifizieren?«
»Keine Chance. Uns sind die Hände gebunden - aber unsere Polizei hat viele fähige Männer an diesen Fall angesetzt. Sie werden es bestimmt raus finden.«
Einige Zeit ist es wieder still, dann höre ich Vincent etwas sagen, was mich ziemlich überrascht.
»Wenn die Polizei denjenigen ausfindig macht, der Henry das hier angetan hat, darf ich ihn dann als erstes in die Mangel nehmen?«, fragt er und hört sich dabei an wie ein völlig Fremder.
In den letzten neun Jahren habe ich ihn noch nie so wütend, aber auch unterschwellig traurig, erlebt. Das ist nicht mein Vinnie, der da spricht und genau diese Tatsache gefällt mir eindeutig überhaupt nicht. Es macht mir sogar ein wenig Angst, was ich nicht wirklich verstehen kann.
»Weshalb?«, fragt Dad Vinnie mehr als misstrauisch.
»Weil ich demjenigen, der Henry und all den anderen Leute dies angetan hat, eine Lektion erteilen will, die sich gewaschen hat.«
Daraufhin herrscht wieder Stille. Sie ist irgendwie angespannt, was nicht wirklich normal für die beiden ist. Normalerweise haben die beiden immer irgendein Thema, worüber sie sprechen können, doch irgendwie scheint es mir so, als gäbe es in diesem Moment kein anderes Thema, was sie großartig miteinander besprechen könnten.
Ein tiefes Seufzen ertönt, welches mit großer Wahrscheinlichkeit von Dad gekommen ist. Irgendwie hört er sich sehr erschöpft an, was wohl auch kein Wunder ist. Immerhin liege ich ja anscheinend im Koma, obwohl ich das Ganze immer noch nicht wirklich kapiere. Mal ganz ehrlich, das ganze ist vollkommen surreal, als wäre ich in einem schlechten Film gelandet, aber es ist nun einmal anscheinend Realität.
»Komm', Vincent! Lass uns den anderen hinterher gehen, sie warten bestimmt schon auf uns«, sagt Dad und ich spüre, wie ein letztes mal jemand mir die Haare aus der Stirn streicht. »Außerdem glaube ich, dass du dringen etwas zu essen brauchst.«
»Aber ich möchte bei Henry bleiben«, flüstert Vinnie leise.
»Er braucht etwas Ruhe, Vincent! Wir können später noch einmal zu ihm, okay?«
Dann wird es still und schließlich höre ich, wie sich die Tür hinter den beiden schließt.
Innerlich seufze ich und versuche mir klar zu machen, dass diese ganze Situation hier wahr ist und ich nicht einfach nur schlecht träume.
Ich liege im Koma, bekomme aber alles mit und mache mir verdammte Sorgen um Vinnie. Immerhin liege ich hier wegen Brad, welcher wohl einen ziemlichen Groll gegen Vinnie zu hegen scheint. Was wäre, wenn Brad Vinnie etwas antut, während ich hier liege und ihm nicht helfen kann? Ich glaube, dann wäre spätestens für mich der Zeitpunkt gekommen, um aufzuwachen und Brad so richtig eine zu scheppern. Außerdem würde ich ihn dann erstmal bei der Polizei anschwärzen und ihnen stecken, dass er hinter diesem Raubüberfall steckt, dass dieses Schwein dafür verantwortlich ist, dass ich und andere Menschen verletzt wurden sind - aber vor allem, dass Vincent durch ihn mehrmals verletzt wurden ist und das nicht nur physisch.
Dazu muss ich aber erst einmal wieder aus dem Koma erwachen und das ist bestimmt leichter gesagt, als getan. Aber ich werde mich anstrengen - für Vincent und für meine Familie, denn sie sind die wichtigsten Menschen in meinem Leben und für sie lohnt es sich zu kämpfen.______
Hallihallo, meine Lieben! Ich hoffe Euch gefällt das Kapitel, auch wenn Henry ab nun erst einmal im Koma liegt! Außerdem tut es mir leid, dass das Kapitel etwas später kommt als normalerweise, aber im Moment ist wieder die Hölle namens Schule los😅 Zum Glück habe ich ab nächster Woche endlich wieder Ferien, dann kann ich mich voll und ganz auf Vinnie und Henry konzentrieren 😍😊
Bis zum nächsten Mal dann!
Eure
theuniverseinus
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Während ich schlief
Teen FictionAls Vincents Eltern bei einem Unfall verunglücken und er gezwungenermaßen zu seinem Großvater nach Toronto auf dessen Farm ziehen muss, scheint für ihn alles hoffnungs- und trostlos. Er fühlt sich alleine gelassen und verloren auf der großen weiten...