Kapitel 04 - Freunde fürs Leben

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Kapitel 04 – Freunde fürs Leben

Der Wind zerzauste ein wenig meine Haare aber erfrischte mich auch gleichzeitig. Ich genieße die Kälte auf meiner Haut, die bei den spätsommerlichen Temperaturen besonders angenehm ist. Noch vor einigen Wochen saßen wir noch zu sechst am See, hatten Shisha geraucht und Alkohol getrunken, sogar Kai. Man hatte ihm nichts angemerkt, außer die leichte Abwesenheit und die oftmals forschen, kühlen Momente, in denen wir alle zusammenzuckten. Wir hatten nicht gemerkt, dass es ihm nicht gut ging, dass es ihm schwer fiel zu lachen oder glücklich zu sein.
Jetzt mache ich mir Vorwürfe. Vorwürfe, als wir ihn ausgelacht haben und ihn als „Langweiler“ bezeichnet haben, nur weil er mal nichts trinken wollte. Wir haben ihn in den letzten Wochen oft anders erlebt als er früher war und dennoch ist uns die Veränderung nicht wirklich bewusst gewesen.
Meine Trauer wandelt sich in Wut gegen mich selbst und schon trete ich schneller in die Pedale. Ich fahre durch die Felder und hoffe, dass die leichte sportliche Tätigkeit mich ein wenig auf andere Gedanken bringen würde, aber nichts hilft. In meinem Kopf ist nur Kai. Kai , Kai, Kai – überall.
Wieder einmal spüre ich die Tränen, wie sie in mir hochsteigen und langsam an meiner Wange runterrollen. In diesem Moment, wie ich durch die Felder fahre, meine Lunge vor lauter Anstrengung langsam brennt und meine Beine schwer werden, wird mir klar, dass Kai für immer nur ein Kapitel meines Lebens war,  ein kleiner Teil von meinem ganzen Leben, doch ich war sein ganzes Leben. Bei dieser Erkenntnis zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Für einen Moment fehlt mir die Luft zum atmen und ich habe das Gefühl, das ich jede Sekunde vom Rad falle. Doch ich habe mich sofort wieder gefasst, halte für einen Moment an, um der aufkommenden Trauer stand zu halten. Nach einer gefühlten Ewigkeit gelingt es mir und ich steige wieder aufs Rad.

Zwanzig Minuten später erreiche ich unseren See, an dem wir schon viele Sommertage verbracht haben. Schon vom weiteren erkenne ich meine Freunde, sie haben bereits die Shisha aufgebaut und zwei Decken neben sie gelegt. Eine Kühlbox, in der ich Bier vermute, ist ebenfalls vorhanden. Max ist der erste, der mich erkennt und schon winkt er wie wild. Ich muss kurz grinsen und fahre die letzten Meter zu ihnen. Nachdem ich mein Fahrrad neben das der anderen gelegt habe, begrüße ich meine Freunde mit einem Handschlag und setze mich neben Lukas und Vincent auf die Decke, während Max und Raffael mit gegenüber schon fleißig am Shisha rauchen sind.
„Wartet ihr schon lange?“, frage ich in die Runde
„Wann bist du denn mal pünktlich?“, erwidert Raffael grinsend, während Vincent einen Arm um mich legt.
„Wir warten glaube ich zehn Minuten aber das ist doch keine große Sache“
Ich nicke, auf Raffaels Kommentar gehe ich gar nicht ein, da ich weiß, dass er es nicht ernst meint.
Nachdem Lukas einen tiefen Zug genommen hat, reicht er mir den Schlauch weiter.
„Das bringt dich hoffentlich auf anderen Gedanken... beziehungsweise uns alle“, sagt er dabei leise. Natürlich fehlt Kai den anderen auch, wir sind schließlich schon seit der fünften Klasse schon sehr gut befreundet, Vincent und er sogar auch schon seitdem ich es mit ihm bin.

„Kriege ich auch n Bier?“, frage ich Lukas, als dieser sich eins aus der Kühlbox nimmt.
„Na klar“, er reicht mir eines, sobald er es mit seinem Flaschenöffner, den er immer an seinem Schlüsselbund hat, geöffnet hat.
Gierig trinke ich die ersten Schlucke des kühlen Gebräus. Es stillt meinen Durst und ich bin froh über die Kühle, die die Hitze in meinem Inneren löscht.
„Was war jetzt in der Kiste?“, fragt Vincent, ihn scheint es schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen zu haben. „Also, du musst es uns nicht sagen, nur wenn du es willst“
Ich lächele ihn kurz an und reiche ihm mein Bier.
„Halt mal eben“
Im nächsten Moment hole ich aus meiner hinteren Jeanstasche das Quartettspiel raus.
„Das unter anderem. Also da ist viel drin, das habe ich aber als erstes erwischt“
„Wow... das ist doch das Quartettspiel, was er fast jede Pause gespielt hat oder?“, Vincent nimmt es mir aus der Hand und sieht es ungläubig an. Auch er hat es öfters mit Kai und mir und weiteren Freunden gespielt. Ich sehe wie er für einen Moment tief ein und ausatmet. Als er mir das Spiel und mein Bier zurück gibt, hat er Tränen in die Augen und sein Blick geht an mir vorbei in die Ferne. Er scheint sich zu erinnern, an eine Zeit, in der noch alles perfekt schien. Automatisch rutsche ich zu ihm und lege meinen Arm um ihn und drücke ihn an mich.
„Ich weiß, dass er uns gerade zusieht und uns wahrscheinlich auslacht, weil wir hier so sentimental werden“, flüstere ich leise, doch meine Stimme bricht von den aufsteigenden Tränen.
Vincent fängt an zu schluchzen und keine zwei Sekunden später laufen die ersten Tränen über seine Wange.
Auch ich kann mich nicht länger zusammenreißen und wieder einmal laufen die heißen Tränen über meine Wange. Als ich in die Gesichter von Lukas, Max und Raffael sehe, sehe ich, dass sie ebenfalls ihren eigenen Gedanken nachgehen. Sie trauern, innerlich. Obwohl sie nicht weinen, so wie Vincent und ich, erkennt man ihnen die Trauer an und das sie ebenfalls leiden.
Vincent lehnt seinen Kopf an meine Schulter, so wie ich es früher im bei Kai getan habe. Er schnieft leise und reibt sich mit der Hand über die Tränen. Ich wische sie nicht weg, sondern trinke im selben Moment noch einen Schluck aus meinem kühlen Bier. Ich habe mir diese Geste einmal von Kai abgeguckt. Während er geweint hat, als seine Schwester Pia einen schweren Autounfall hatte und nicht feststand, was genau mit ihr ist. Er saß neben mir, die Tränen liefen über seine Wange, doch er wollte sie nicht wahrhaben und trank stattdessen aus seinem Bier, um eine Beschäftigung zu haben, die ihn von seinen eigenen Tränen ablenkten.

In Liebe ... (boyxboy) (PAUSIERT)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt