4.45Uhr. Sie konnte die Kirchturmuhr schlagen hören, obwohl ihr Fenster geschlossen war. Sie war immer noch wach. Ihre Gedanken ließen sie einfach nicht los. Nachdem das Mädchen eine Weile aufrecht in ihrem Bett gesessen hatte, stand sie auf und ging zu ihrem Kleiderschrank. Sie zog ein weißes Hemd über und hielt kurz inne. Es war ihr zwar viel zu groß, aber ihr Lieblingshemd, denn es roch nach ihm. Er hatte es ihr eines Nachts dagelassen, damit sie darin schlafen konnte. In der Nacht, in der er sie verlassen hatte und nie wieder kam. Sie suchte ihre Zigarettenschachtel heraus und begann die Treppen zum Dachboden hinaufzusteigen. Die alten Holzdielen knarzten bei jedem ihrer Schritte und das waren die einzigen Geräusche, die im Haus zu hören waren. Denn sie war allein.
Sie öffnete das Dachbodenfenster und kletterte hinaus. Ein warmer Sommerwind kam ihr entgegen und sie sah, dass die Sonne bereits aufzugehen begann. Sie liebte das, Sonnenaufgänge, doch viel mehr hatte sie es geliebt, diese mit ihm zu beobachten. Das Mädchen setzte sich auf das Dach, was sie öfter in Nächten wie dieser tat und zündete sich eine Zigarette an. Rauch erfüllte ihre Lunge und vertrieb damit das letzte Bisschen Schmerz, den sie noch fühlte. Der Wind spielte mit ihren langen braunen Haaren, das Zwitschern der Vögel durchbrach die Stille. Sie dachte zu viel nach, genau das war ihr Problem. Sie dachte zu viel nach und interpretierte zu viel in die Worte anderer Menschen hinein. Sie war einfach nicht die perfekte Freundin, die man sich wünschen würde. Zumindest für ihn nicht. Die beiden hatten sich so sehr geliebt, sie vertrauten sich blind. Sie hatten so gut zusammen gepasst, dass alle gesagt hatten: "Ja, die beiden werden ein mal heiraten!" Doch dem war nicht so. Diesem Wunsch hatte er einen Strich durch die Rechnung gemacht. "Er war noch nicht so weit" Sie lächelte verächtlich, sank den Kopf und nahm erneut einen tiefen Zug. Einatmen. Ausatmen. Sie musste sich beruhigen. Das ganze war bereits vier Monate her und trotzdem hatte sie noch nicht den Mut, die Kraft nach vorne zu gehen. Er hatte sie wirklich glücklich gemacht. Ein Gefühl, welches sie selten in ihrem Leben empfunden hatte. Glück. Geborgenheit. Das Gefühl, angekommen, ja Zuhause zu sein. Und auf ein mal war sie wieder allein. Sie brauchte nun keine zweite Decke mehr im Bett, sie musste keinen Kaffee mehr für zwei kochen geschweige denn eine Pärchenpizza bestellen. Aber manchmal tat sie es immer noch und sie vermisste ihn so sehr. Ob er davon wusste? Ob es ihn überhaupt interessierte?
Während sie in die Ferne starrte, dachte sie daran, was er wohl gerade so treiben würde bzw. mit wem. Sie war sich sicher, dass er nicht allein war, nicht so wie sie. Er verschwendete bestimmt nicht mal einen Gedanken an sie. Und während das Mädchen, das so zerbrechlich wirkte, über all diese Sachen nachdachte und ihre Zigarettenschachtel immer leerer wurde, liefen Tränen aus ihren grünen Augen über ihre Wangen und vertrübten ihre Sicht. Und so konnte sie den wunderschönen Sonnenaufgang, das Farbspiel aus Rot, Rosa, Orange, Gelb und Blau; das was sie sonst immer so sehr geliebt hatte, nicht sehen. Und eigentlich waren Sonnenaufgänge gar nicht mehr so schön für Melina, denn sie hatte sie nur so sehr geliebt, weil er bei ihr gewesen war.
Melina saß noch eine Weile auf dem Dach und sah in die Ferne. Langsam wurde es hell und sie konnte jeden einzelnen Sonnenstrahl auf ihrer Haut spüren. Die Vögel sangen ihre Lieder, die Stadt schlief noch. Nur vereinzelt fuhren bereits Menschen zu ihrer Arbeit. Melina saß da, ließ sich von der Sonne wärmen und zog an ihrer letzten Zigarette und trotzdem war das Leben nicht schön. Sie war jedes Detail in ihrem Kopf durchgegangen. Immer und immer wieder und trotzdem verstand sie nicht, was sie falsch gemacht hatte. Was ist, wenn es gar nicht an ihr gelegen hatte? Vielleicht war Melina einfach ein komplizierter Mensch. Vielleicht sogar so kompliziert, dass niemand sie wirklich verstand. Am wenigstens sie selbst. Schließlich stand sie auf, schlich barfuß den Dachboden hinunter und legte sich in ihr Bett. Sie war müde, aber sie wusste, dass sie von ihm träumen würde, würde sie die Augen schließen und das wollte sie auf keinen Fall. Sie dachte weiter nach. Verlangte sie zu viel? Konnte es sein, dass sie einfach zu hohe Erwartungen hatte? Melina wollte doch nur jemanden, mit dem sie über alles reden und lachen konnte. Mit dem sie stundenlang irgendwelche Filme anschauen und sich über die dummen Stellen lustig machen konnte. Sie wollte jemanden, der offen für Abenteuer war. Einfach wegfahren und sehen, wo man landet. Sie wollte mit ihm Kunstmuseen besuchen oder in den Zoo gehen. Sie wollte jemanden, bei dem sie sich sicher und beschützt fühlte. Das Gefühl von Zuhause. Er sollte sie zum lachen und ihre Augen mit seinem Lächeln zum funkeln bringen können. Sie wollte jemanden, der ihr Frühstück machte und sich um sie kümmerte. Aber vor allem wollte sie einen Mann, der sie liebte, wie sie war. Und wenn das zu viel verlangt war, verlangte sie lieber gar nichts. Melina hatte sich mittlerweile aufgesetzt und überlegte nun, was sie tun sollte. Schließlich beschloss sie sich anzuziehen und einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Also schlüpfte sie in ihre Jeans, zog sich Parka und Schuhe an und schloss die Tür hinter sich. Sein Hemd hatte sie anbehalten.
Sie schlenderte durch die Straßen der Stadt, die langsam aufwachte. Melina hatte gehofft, einen klaren Kopf zu bekommen, doch dem war nicht so. Und Zigaretten hatte sie auch keine mehr. Sie beschloss in die Bibliothek zu gehen und sich neue Bücher auszuleihen, da sie Zuhause alle ausgelesen hatte. Während Melina Kurs auf die Bibliothek und das dazugehörige Café nahm, lief sie an einem Schaufenster vorbei. Sie blieb stehen und musterte sich selbst. Ein Mädchen mit ungekämmten Haaren, einem viel zu großen Hemd und tiefen Augenringen starrte zurück. Sie war dünn geworden. Der Kummer hatte seine Spuren hinterlassen. Melina konnte ihren eigenen Anblick nicht länger ertragen und lief weiter. Sie überlegte, was er wohl grade so machen würde. Würde er in einem großen Bett mit weißem Bettzeug neben einer unheimlich schönen Frau aufwachen oder allein? War er vielleicht bereits wach, weil er wie sie die ganze Nacht nachgedacht hatte? Melina war sich nicht sicher, doch schließlich nahm sie ihr Handy heraus. Vielleicht sollte sie ihn anrufen.
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Sonnenaufgang
Teen FictionEine Geschichte über Herzschmerz, den Sinn des Lebens und die Frage, ob die beiden Hauptcharaktere wieder zusammen finden.