Kapitel 1

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"Jonathan, könnten Sie mir verraten wo zum Teufel mein Vater ist?"

Der junge Mann stand wutentbrannt vor dem Anwesen seines Vaters, zu welchem ihm der Zugang verweigert wurde. Jonathan, der hauseigene Butler, versuchte ihn durch die Fernsprecheinrichtung, die am Eingangstor angebracht war, zu besänftigen.

"Adam, es ist spät und Sie stören die Nachbarn mit Ihrem Geschrei. Wie wäre es wenn Sie nach Hause gehen und morgen Mittag wiederkommen?"

"Scheiß auf die Nachbarn, Jonathan! Ich muss mit meinem Vater sprechen und bis morgen kann ich nicht warten."

Der alte Mann seufzte laut und erwiderte müde "Leider kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich habe strikte Anweisungen bekommen. Gute Nacht, Adam."

Bevor er wieder protestieren konnte wurde die Anlage schon abgeschaltet.

"Jonathan, du mieses Arschloch", rief er so laut, dass es nicht nur der Butler seines Vaters, sondern vermutlich auch die snobistischen Nachbarn gehört hatten. Fest schlug er erst mit dem linken, dann mit dem rechten Fuß gegen das imposante schwarz lackierte Stahltor.

"Ich mache Sie fertig, Jonathan. Verlassen Sie sich darauf."

Adam kochte vor Wut über, sodass er abermals auf das Tor einschlug, aber diesmal mit seiner rechten Hand. Augenblicklich durchfuhr ein starker Schmerz seinen Ring- und Mittelfinger. Ein kurzer Aufschrei, ehe er sich auf die Unterlippe biss und die pochenden Finger mit der anderen Hand umklammerte.

"Scheiße", brachte er stöhnend hervor und sah sich dann kurz um, ob ihn jemand bei dieser peinlichen Aktion beobachtet hatte. Seine Augen wanderten von einer Villa zu der nächsten. Es schien, als ob sich die Bewohner in dieser feinen Siedlung mit ihren Häusern übertreffen wollten. Sobald jemand eine Renovierung unternahm, zogen die anderen nach.

Langsam wanderte sein Blick zu dem Haus der verbitterten Mrs. Ludowski. Seine Haare an beiden Unterarmen richteten sich vom bloßen Gedanken an diese Frau auf. Sie war ihm unheimlich, schon seit seiner Kindheit. Das Haus, welches verfallen aussah und eine perfekte Kulisse für einen billigen Horrorfilm wäre, hatte sich in den vergangenen fünf Jahren kaum verändert. Die Fassade war lediglich mit etwas Moos bedeckt, was das Haus noch unheimlicher wirken ließ. Adam konnte seinen Blick nicht mehr abwenden, er war von der Atmosphäre, die das Gebäude umgab, fasziniert und gleichzeitig eingeschüchtert.

"Adam", hörte er plötzlich eine dunkle Stimme hinter sich. Er fuhr herum und starrte seinem Vater in die Augen, der seine Stirn runzelte.

"Alles in Ordnung?", fragte er leicht besorgt.

Adam schnaubte verächtlich und schüttelte seinen Kopf. "Du hast meine Kreditkarte sperren lassen, George. Du hast mir diesen Monat kein Geld überwiesen, ich habe keinen Cent in den Taschen. Ich kann mir noch nicht einmal Milch leisten. Weißt du wie peinlich es ist, wenn im Supermarkt die Kreditkarte abgelehnt wird?"

"Ich hatte keine andere Möglichkeit, Adam! Weißt du noch, worüber wir vor zwei Monaten gesprochen haben?"

Adam lachte auf. "Ich nehme keine Drogen mehr, ich war doch in der Klinik! Ich habe getan, was du mir gesagt hast!"

"Willst du mich für dumm verkaufen, Adam? Ich habe in der Klinik angerufen, du hast dich nach vier Tagen selbst entlassen. Dachtest du, dass ich das nicht überprüfe? Ich werde deine Sucht nicht länger finanzieren. Deine Miete werde ich weiterhin bezahlen, wenn du Lebensmittel brauchst kannst du mich anrufen und ich werde für dich einkaufen."

George kramte in seiner Sakkotasche und holte seinen Hausschlüssel hervor.

"Und das war es jetzt? Ich bekomme von nun an kein Geld mehr?"

"Ich bin es satt, Adam. Du bist vierundzwanzig. Ich werde dir bei allem behilflich sein, aber von nun an bin ich nicht mehr deine Geldquelle."

Sein Vater blickte ihn traurig an, ehe er sich wieder in sein Auto setzte und durch das offene Tor fuhr.

Adam ließ seine Finger durch seine dunklen Haare gleiten. Zum ersten Mal in seinem Leben kroch das Gefühl von Verzweiflung in ihm hoch. Er verfluchte seinen Vater, zum siebten Mal an diesem Tag. Er konnte ihn schließlich nicht sein ganzes Leben lang verwöhnen und von einem Tag auf den anderen damit aufhören. Langsam verflog die Verzweiflung und die Wut kehrte wieder zurück. Er würde die Entscheidung seines Vaters nicht akzeptieren, so viel stand fest.

Wieder sah er sich in der Nachbarschaft um, dann spähte er durch die Gitterstäbe des Stahltors. Er rüttelte leicht daran, hoffend, das Tor würde sich magisch öffnen.

"Nicht mit mir, alter Mann", flüsterte er.

Ein letzter Blick hinter sich, niemand war zu sehen. Er zog seine Lederjacke aus, um mehr Bewegungsfreiheit zu erlangen und warf sie auf den Boden. Seine Hände umfassten die Gitterstäbe und er merkte, dass sich seine beiden Finger von dem Schlag vorhin erholt hatten. Er grinste. Langsam fing er an das Tor hinaufzuklettern, warf aber immer wieder einen Blick auf das Haus seines Vaters. Es brannte kein Licht mehr und er fühlte sich siegessicher.

"Das hast du davon, George", flüsterte er wieder und erreichte schnell die andere Seite des Tors. Er stieg hinab und sah auf seine Hände, die vom schmutzigen Tor eine dunkle Farbe angenommen hatten. Adam streckte angeekelt seine Zunge hinaus und warf einen Blick über das große Anwesen seines Vaters. Er war seit Jahren nicht mehr hier gewesen und hatte schon fast vergessen wie weitläufig es war. Der Rasen war sehr gepflegt, Apfel- und Kirschbäume konnte man im Sommer bewundern. Das Anwesen war mit Abstand das schönste in diesem Viertel. Konzentriert hielt Adam Ausschau nach dem Wagen seines Vaters.

Sein Handydisplay diente ihm als Taschenlampe. Ohne Licht war es fast unmöglich sich nicht zu verlaufen. Sogar Mr. Harvey, der Gärtner, hatte einmal die Orientierung im Gemüsebeet hinter dem Haus verloren und fand erst nach zwei Stunden wieder hinaus. Der arme Mann sah unglaublich niedergeschlagen aus und einen Sonnenbrand hatte er auch bekommen.

Adam näherte sich langsam der Garage, hoffend, sein Vater hätte sie nicht abgeschlossen. Er umfasste den Griff und zog ihn nach rechts.

"Ja!", schrie er und schlug sich dann die Hand vor den Mund. Er hielt kurz inne, lauschte in die Stille hinein und öffnete das Garagentor so leise wie er nur konnte. Ein breites Grinsen legte sich über seine Lippen. Fünf Autos lächelten ihn an und er konnte sich schwer für eins entscheiden. Schließlich wählte er doch den Schatz seines Vaters, einen Bentley, und öffnete die Wagentür.

Zu seiner Verwunderung war weder die Garage, noch das Auto abgeschlossen. Adam zuckte mit den Schultern und setzte sich hinein. Er strich mit seinen Fingern über die kalten Ledersitze, dann über das dunkle Armaturenbrett. Er musste zugeben, dass George einen wirklich guten Geschmack hatte was Autos anging.

Geführt von einem eigenartigen Gefühl griff er unter den Beifahrersitz und ertastete sofort die Schlüssel.

"Unglaublich", sagte er misstrauisch. "So viel Glück.." Er verstummte, als er den kleinen grauen Funkhandsender für das große Tor auf dem Beifahrersitz liegen sah.

"So dumm kann der Alte doch nicht sein." Ungläubig nahm er das Gerät in die Hand und lachte auf.

"Unglaublich", wiederholte er, während er den Schlüssel in das Schloss steckte und der Motor problemlos ansprang. Fest drückte er auf das Gas, fuhr über den schönen Rasen und verließ nach mehrmaligem Hupen die Einfahrt. Adam fühlte sich gut. Er fühlte sich unbesiegbar, auch wenn er wusste, dass sein Vater in diesem Moment wohl mit der Polizei sprach.

Er genoss jede Sekunde in dem Wagen, er genoss die Freiheit, die er noch nie so stark gespürt hatte. Adam hatte das Gefühl er würde abheben. Und plötzlich sah er ihn. Fest stieg er auf die Bremse und drückte auf die Hupe. Der alte Mann sah in seine Richtung, er wirkte wie in Trance. Adam schloss seine Augen, hoffend, dass er rechtzeitig zum Stehen kommen würde und wissend, dass es unmöglich war.

AbyssesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt