41. Seelenschmerz

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ZÜMRA

„Maybe we feel empty because we leave pieces of ourselves in everything we used to love."

R. M. Drake

Die Fahrt nach Hause dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Immer wieder spielte sich das Gespräch zwischen Azad und mir in meinem Kopf ab und ich war kurz davor durchzudrehen.
Natürlich war ich nicht dumm, ich konnte eins und eins zusammenzählen. Ich wusste, dass die Distanz durch das Aufeinandertreffen mit Mevlüt zustande gekommen war. Ich seufzte erleichtert auf, als ich auf dem Parkplatz vor dem Haus der Zwillinge zum stehen kam.
Mit einem aufgesetzten Lächeln betätigte ich die Klingel und wurde im nächsten Moment von meiner Milchmutter ins Haus gebeten und herzlich umarmt.
„Wie war die Fahrt?", Zeynep Anne sah mir dabei zu, wie ich meine Jacke an den Kleiderhaken hing. „Anstrengend", ich seufzte laut und legte die Transportbox mit meinem Kater auf dem Boden ab. „Darf ich ihn raus lassen?", ich sah sie fragend an und öffnete auf ihr zustimmendes Nicken die Tür der Box.

„Meine Lieblingsmilchschwester!", rief Halil und unterbrach somit das Gespräch seiner Mutter und mir. „Ich bin deine einzige Milchschwester, Halil", ich grinste kopfschüttelnd und lief einige Schritte auf ihn zu. „Das stimmt wohl", er kratzte sich am Nacken, stürzte sich im nächsten Augenblick aber auf mich und warf mich über seine Schulter.
„Schaut wen ich hier habe", lachend setzte er mich im Wohnzimmer auf den Beinen ab und kassierte dafür einen saftigen Schlag in die Magengrube. Vor Schmerz krümmte sich mein Milchbruder vor mir, doch es interessierte mich herzlich wenig.

„Hoşgeldin kızım (Willkommen meine Tochter)", Kadir Baba — der Vater der Zwillinge — schloss mich in eine herzliche Umarmung und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Und übrigens  danke für den Schlag, das hatte er seit einigen Tagen mehr als nur nötig", grinsend löste er sich von mir und warf seinem Sohn einen zufriedenen Blick zu. Halil verschränkte eingeschnappt die Arme vor der Brust und schmollte wie ein kleines Kind, weswegen ich mir ein Kichern nicht unterdrücken konnte.

„Wie geht's dir, Baba?", ich lächelte Kadir Baba an, nachdem er mir einen Arm über die Schulter warf und das Sofa zusteuerte. „So wie es einem Mann mit zwei Idioten als Sohn gehen kann", lachend blickte er zu den Zwillingen, die es sich inzwischen auf dem zweiten Sofa gemütlich gemacht hatten. „Baba, ey! Was sagst du da?", entsetzt Blicke Ibrahim seinem Vater ins Gesicht und entlockte ihm ein lautes, herzliches Lachen. „Nur die Wahrheit", Zeynep Anne warf ihren Söhnen einen strengen Blick zu und legte das Tablett mit Teegläsern auf dem Couchtisch ab. „Fatih kommt auch direkt her, die anderen müssten aber eigentlich auch schon hier sein", Zeynep Anne legte ihre Stirn in Falten und blickte auf die Uhr. Keine Sekunde später ertönte die Klingel und Ibrahim erhob sich von seinem Platz. Im Flur ertönten alle Stimmen unserer Familienmitglieder und ein Lächeln zierte mein Gesicht. Nachdem ich jeden herzlich umarmte, blieb ich neben meinem Schwager stehen, der Meryem in der Babyschale zwischen den Händen hielt. „Ich darf doch, oder?", grinsend beugte ich mich runter und öffnete den Gurt, um meine Nichte aus ihrem Sitz rauszuholen. „Du fragst noch?", Ismail Abi grinste und sah mir dabei zu, wie ich seine Tochter zwischen meine Arme nahm. Vorsichtig drückte ich meine Nase gegen Meryems Halsbeuge und inhalierte ihren Geruch — Kinder rochen zweifellos nach Frieden.

Nach einer weiteren halben Stunde, in der die Frauen das Essen vorbereiteten und die Männer es sich gemütlich auf den Sofas machten, klingelte es erneut an der Tür und ich eilte dorthin. Fatih strahlte mich über beide Ohren an, doch verschwand der Ausdruck in seinem Gesicht, als er mich etwas länger musterte. „Was ist los?", er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und beäugte mich kritisch. Ich schluckte schwer — wieso musste er mich ganz besonders gut kennen? „Können wir später darüber reden? Ich möchte uns die Zeit mit der Familie nicht verderben", ich senkte meinen Blick. „Natürlich", Fatih drückte mir einen langen Kuss auf die Stirn, hing seinen Parka an den Kleiderhaken und lief ins Wohnzimmer. Erleichtert atmete ich auf und schloss die Augen.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt