48. Freiheitskämpfer

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AZAD

„Das Leben wäre vielleicht einfacher, wenn ich dich nicht getroffen hätte. Es wäre nur nicht mein Leben."

Erich Fried

Seit der Hochzeit meines besten Freundes war nun eine ganze Woche vergangen — eine ganze Woche in der ich hauptsächlich in der Unibibliothek und im Mercedes-Werk saß, um meine Recherchen für die Masterarbeit zu vervollständigen, mit denen ich bereits vor einem Monat angefangen hatte.

Das nächste halbe Jahr würde für uns alle ein anstrengendes werden — es war schließlich nicht einfach eine mindestens 80 Seiten lange Abschlussarbeit zu schreiben.

Bevor der Stress jedoch zum Dauerzustand werden würde, beschloss ich heute — an dem ersten Samstag des Semesters — meinen Eltern einen spontanen Besuch ab zu statten. Kurz bevor ich losfuhr, rief ich meinen Vater an, um mich zu vergewissern, dass sie zuhause waren. Nachdem er mir bestätigte, dass ich vorbeikommen konnte, zwang ich mich in etwas schickere Klamotten — anders würde mich mein Vater nicht ernst nehmen, das wusste ich.

„Azad, wartest du bitte?", kurz bevor ich den Aufzug betrat, ertönte Zümras Stimme hinter mir und ich hielt in meiner Bewegung inne. „Hey", sie grinste und stellte sich im Aufzug mir gegenüber. „Wieso so schick?", sie deutete auf das Hemd unter meiner Lederjacke. „Hatte Lust drauf", ich grinste, versuchte die Wahrheit zu vertuschen.

Ich hatte beschlossen, Zümra vorerst nichts von dem Gespräch zu erzählen — ich wollte nicht, dass meine Eltern sie verletzten.

„Ich tue jetzt einfach so, als würde ich dir das abkaufen", sie hob ihre rechte Augenbraue kritisch in die Höhe. „Wie war deine erste Woche vom zweiten Semester?", ich grinste breit, wechselte das Thema doch erkannte Zümras nachdenklichen Ausdruck in ihrem Gesicht. „War gut, ich habe mich an euer Uni-System gewöhnt", sie zuckte mit den Achseln.
„Wie laufen deine Recherchen?", fragte sie mich zögernd und lächelte. „Gut, zum Glück. Es ist auf jeden Fall einfacher, als die anschließende Forschung", ich seufzte laut, als ich an die Arbeit denken musste, die noch anstand. „Ölverhalten in Verbrennungsmotoren war dein Thema, oder?", sie strich sich eine Locke hinters Ohr und blickte in meine Augen. „Ja genau", ich nickte bestätigend und trat aus dem Fahrstuhl, der nun auf dem Erdgeschoss angekommen war. „Das ist auch der Bereich, in dem du als Werkstudent tätig warst, oder? Dann hättest du doch theoretisch auch Fahrzeug- und Motorentechnik studieren können", sie blickte kritisch zu mir, weswegen ich lachen musste. Ich öffnete die Haustür und ließ sie vorlaufen. „Ja schon, aber ich wollte das Spezialisieren so weit wie nur möglich hinauszögern", ich zuckte mit den Achseln und steckte die Hände in die Jackentaschen der Lederjacke, als eine frische Frühlingsbrise wehte.

Auf dem Parkplatz kamen wir schließlich zum Stehen und starrten einander an. „Wo gehst du eigentlich hin? Ich wusste gar nicht, dass du so sozial bist", fragte ich und grinste frech. „Ach, lass mich doch in Ruhe. Ich muss kurz einkaufen, aber eigentlich will ich mir das gar nicht antun", sie seufzte laut — es war wirklich nicht angenehm an einem Samstag einkaufen zu gehen. „Du ärmste", ich grinste und lehnte mich an ihren Wagen, an dem wir nun standen. „Ich muss dann auch los. Sehen wir uns heute Abend?", fragte ich nach einem Blick auf meine Armbanduhr. „Können ja auf dem Balkon Kaffee trinken", grinste Zümra und entsperrte ihren Wagen. „Gerne doch, azadîyamin (meine Freiheit)", ich trat einige Schritte zurück und sah ihr dabei zu, wie sie in ihren Golf stieg und anschließend aus meinem Sichtfeld verschwand.

„Okan, ich brauche kurz einen Motivationsschub. Ich stehe vor dem Haus meiner Eltern und möchte mit ihnen über Zümra sprechen", sprach ich in mein Handy, nachdem mein bester Freund meinen Anruf entgegennahm. „Ich bin so stolz auf dich, birayêmin (mein Bruder)", war sein erster Satz, der mich unwillkürlich Lächeln ließ.
„Du schaffst das, hörst du mich? Dein Name ist frei, und Zümra ist deine Freiheit. Du bist ein Freiheitskämpfer, und das musst du deinem Vater beweisen", Okans Worte brachten mich zum grinsen.
„Pass auf mit dem Wort, sonst betitelt mich noch jemand als Terrorist, ohne dass ich jemals eine Waffe in der Hand gehalten habe", ich lachte und auch mein bester Freund lachte herzlich. „Lüg nicht, du hast Pamir Abis Waffe bestimmt schon mal unter die Finger bekommen. Außerdem haben wir doch schon einige Male Schießübungen von meinem Opa bekommen", ich konnte mir zu gut vorstellen, wie Okan provozierend grinste.
„Danke, Okan. Kardeşimsin (Du bist mein Bruder)", seufzte ich zum Abschied, schloss die Augen und versuchte mir einzureden, dass alles gut laufen würde.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt