49. Der rote Schal

1.4K 107 111
                                    

ZÜMRA

„When you meet the other half of your soul, you'll understand why things didn't work out with anyone else."

Jill Blakeway

„Wo bleibst du, kleine Hexe?", tippten meine Finger eine Nachricht an Mislina, die hätte vor 20 Minuten bei mir sein müssen. „Ich bin gleich da", schrieb sie kurz darauf und ich legte mein Handy beiseite.

Seit dem Gespräch mit Azads Eltern waren nun zwei Wochen vergangen. Ohne zu zögern hatte ich meinen Eltern an jenem Abend gesagt, dass sich die Familien in kürzester Zeit kennenlernen sollten, aber sobald Azad etwas weiter mit seiner Forschung war, damit er seine Abschlussarbeit nicht vernachlässigte.

„Tut mir leid, dass ich zu spät bin, Zümra abla. Ich bin vorhin — okay nein, es ist tatsächlich einige Stunden her — mit einem Jungen ins Gespräch gekommen. Er saß am Schlossplatz und hat geweint, da konnte ich nicht wegsehen", sie seufzte und schenkte mir ein zuckersüßes Lächeln. „Passt schon, komm rein", ich grinste und trat einen Schritt zur Seite, damit sie reintreten konnte.

„Komm schon, lassen wir es lieber sein. Ich kann einfach kein Mathe", Mislinas Verzweiflung brachte mich unwillkürlich zum Lachen und doch wurde ich im nächsten Moment wieder total ernst. „Nein, nein, nein, Madame! Du gibst deine Hoffnung nicht auf", gab ich von mir und zog meine Augenbrauen zusammen. „Aber ich bin ein hoffnungsloser Fall!", frustriert griff sie nach ihrer Kaffeetasse, die ich ihr vor einigen Minuten vor die Nase gestellt hat. „Juckt mich das?", provokant grinste ich sie an und konnte erkennen, wie sie sich innerlich für ein Wortgefecht vorbereitete. „Komm schon, lass mich nach Hause fahren. Schau, gleich fängt es an zu regnen, ich habe keinen Schal und auch keinen Schirm mehr", seufzte sie und ließ ihren Blick nach draußen wandern. Tatsächlich hatten sich dunkle Wolken verdichtet und es sah so aus, als würde es jeden Moment zu schütten anfangen.
„Was heißt hier nicht mehr?", fragend hob ich die rechte Augenbraue in die Höhe. „Ich habe dir ja von dem Jungen erzählt, den ich am Schlossplatz getroffen habe. Ich hab sie ihm gegeben, weil ich sowieso die nächste Bahn genommen hätte. Außerdem war ihm kalt — aber wie sehr kann man denn jemanden aufwärmen, dessen Inneres friert?", sie seufzte laut auf. „Du bist einfach unglaublich! Für dein Alter einfach viel zu reif und sensibel", ich lächelte sie herzlich an und griff nach ihrer Hand, die auf dem Tisch lag.

„Los, ich fahre dich. Ich habe keine Lust auf Okans Gejammer, falls du dich dann erkälten solltest", grinste ich im nächsten Moment und erhob mich von meinem Stuhl. „Aber wollte dein Bruder nicht kommen?", fragte sie überrascht und bei dem Gedanken an Fatih musste ich breit lächeln. „Er kann ja rüber zu Azad, der müsste vorhin gekommen sein", ich zuckte mit den Achseln und lief in den Flur. „Oder ich lasse meinen Ersatzschlüssel bei Azad, dann kann Fatih in die Wohnung", rief ich, damit mich Mislina aus dem Flur hören konnte. Kurze Zeit später stand sie mit ihrem Rucksack an der Hand hinter mir und griff nach ihrem beigen Mantel. „Wenn es für dich kein Problem ist, dann lasse ich mich gerne kutschieren", ein breites Grinsen schlich sich auf Mislinas Gesicht während sie sich ihren Mantel überstreifte.

„Ich bringe den Schlüssel kurz rüber", ließ ich Mislina wissen, während sie sich ihre Schuhe anzog. Stumm nickte sie und widmete sich ihren Schnürsenkeln. Vorsichtig betätigte ich Azads Klingel und blickte gegen die Tür, bis sie im nächsten Moment aufgerissen wurde und ein frisch geduschter Azad mit nassen Haaren vor mir stand. „Oh hey", er grinste kurz und lehnte sich gegen seinen Türrahmen. „Hey", unwillkürlich fixierte ich sein Grinsen, das Grübchen an seiner Wange und das unschuldig wirkende Gesicht. „Zümra Abla", rief Mislina nach mir und unterbrach mein Starren. Peinlich berührt kratzte ich mich mit meiner linken Hand am Nacken, während ich meine rechte Hand mit dem Schlüssel Azad entgegen streckte. „Kannst du die Muhammed geben? Ich schreibe ihm gleich, dass er bei dir klingeln soll. Ich fahre nur kurz Mislina nach hause", erklärte ich mich. „Ja klar, das ist doch kein Thema", Azad nickte bestätigend und beugte sich leicht vor um Mislina zu erblicken. „Grüß deinen Bruder von mir", zwinkerte er ihr zu und brachte sie zum Erröten. Stumm nickte sie und lief zum Fahrstuhl. „Dann bis bald?", ich grinste Azad vorsichtig an und kehrte ihm den Rücken zu, nachdem er mich mit einem Nicken bestätigte.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt