Bonuskapitel 1 - Der Unfall (Fatih)

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FATIH

„We only part to meet again."

„Du 31er fährst jetzt also ohne mich mit unseren Großeltern in die Türkei?", Azads Mine verfinsterte sich und brachte mich unwillkürlich zum Lachen. „Ich habe meine Eltern vermisst, Azad", seufzte ich und erinnerte mich an meinen sechzehnten Geburtstag, als sie mir mitgeteilt hatten, dass sie in die Türkei ziehen wollten.

Wir wollen dich nicht zwingen mitzukommen, Fatih", erinnerte ich mich an die Worte meiner Mutter. „Wenn du möchtest kannst du hier dein Abitur machen, und drüben studieren. Oder du kannst auch für immer hier bleiben, es ist dir überlassen. Egal wofür du dich entscheidest, wir werden dich immer unterstützen", hatte mein Vater damals ergänzt.

„Und wieso darf ich verdammt nochmal nicht mitkommen?", rief er dieses Mal verzweifelt aus und die erste Träne lief ihm über die Wange — er war in letzter Zeit wieder so sentimental. „Azad!", mahnte Oma von der Küche und wir mussten automatisch lachen. Für sie war bereits das Wort verdammt ein Tabu. „Dein Vater hat es nicht erlaubt, kurê min (Kurdisch: mein Sohn)", die tiefe Stimme unseres Großvaters ertönte hinter mir und über meine Schulter blickte ich zu ihm. „Ich habe wirklich versucht ihn zu überreden, aber er ist nicht umzustimmen. Du kennst doch deinen Vater, Azad", der stärkste Mensch, den ich kannte, wirkte für diesen Moment so verletzlich und kraftlos — es fiel ihm nicht leicht Azad hier alleine zu lassen. „Ich glaube dir, Dede (Opa)", Azad seufzte laut und ließ seine Schultern zusammen sacken. Leicht berührte Opa ihn an der Schulter und Azad tankte dadurch deutlich Kraft.

Mit einem kurzen Kopfnicken ließ ich meinen Cousin wissen, dass er mir folgen sollte. Ich wollte eine letzte Spritztour mit ihm machen, ehe wir uns für zwei Wochen trennten. Verstehend nickte er, nahm uns zwei Gebäckstücke, die Oma für die morgige Fahrt vorbereitete, und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Oma schloss wie immer die Augen und genoss den kurzen Kuss von ihrem Enkel. Während wir zu Opas Wagen liefen, welches ich seit meinem Achtzehnten vor zwei Wochen fast als eines meiner Körperteile definieren könnte, aßen wir die Gebäckstücke und stöhnten leise genussvoll vor uns hin — wieso musste diese Frau so gute Kochkünste haben? Wenn es so weiter gehen würde, würde uns in einigen Jahren das Essen unserer zukünftigen Frauen gar nicht schmecken. „Wohin entführst du mich?", Azad lachte selbst über seine Aussage und beugte sich zum Radio, um die CD von MoTrip in den CD-Player zu schieben. „Das geht an alle, die mich nicht kennen und alle, die mich kennen", rappte ich leise mit. „Wo willst du denn hin?", grinsend betrachtete ich Azads Seitenprofil. „Mit dir würde ich bis ans Ende der Welt gehen", er zuckte mit den Achseln. „Okay, dann fahren wir zum Burgholzhof, ein letztes Mal auf die Stadt herunter sehen bevor ich morgen weg bin", ich drückte leicht auf das Gas und brachte den Wagen in Bewegung.

Auf halber Strecke hielt ich neben einem Lebensmittelladen an, um uns mit Getränken abzudecken. „Ich gehe schon", rief Azad und stieg aus. Mit eiligen Schritten lief er in den Laden und trat einige Minuten später mit drei RedBull Dosen und drei Flaschen Sprite heraus. Nachdem er wieder im Wagen saß, fuhr ich weiter zu unserem eigentlichen Ziel.

„Bu şehir (Diese Stadt)", ich atmete die Luft tief ein und wandte mich von der Aussicht, die ich hatte, zu meinem Cousin, der hinter mir auf der Bank saß, „bana sevmeyi ve sevilmeyi öğretti. İyi ki kalmışım ben burda (hat mir das Lieben und das geliebt Werden beigebracht. Zum Glück bin ich hier geblieben)", ich strahlte und lief zu Azad um mir ein Getränk zu nehmen. „Ach, du bist also nur wegen der Stadt froh, geblieben zu sein?", provozierend hob er die rechte Augenbraue hoch und entlockte mir ein lautes Lachen. „Eifersüchtig?", fragte ich grinsend, nachdem ich das Lachen etwas eingestellt hatte. „Ja?! Du ziehst mich einer Stadt vor, die ohne mich wertlos wäre. Also gönn mir diesen Eifersuchtsfilm", er zuckte mit den Achseln. Mit einem amüsierten Gesichtsausdruck nahm ich neben ihm Platz und legte meinen rechten Arm um seine Schultern. „Wie du schon sagst: diese Stadt ist ohne dich wertlos birayêmin (mein Bruder). Ohne dich wäre ich in dieser Stadt nicht geliebt worden", ich lächelte ihn an und konnte auch in seinem Gesicht ein Lächeln wahrnehmen.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt