27. Kapitel

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"Willkommen im Keller ...", säuselte eine dunkle Männerstimme. Das musste Dragozius sein! Ich wagte es kaum zu atmen. Was wollte er denn hier unten? Wollte er nicht nur einen Schüler nehmen und wieder verschwinden?
„Los, setz dich ... - Wie war nochmal dein Name?"
„Sam.", wisperte eine mir vertraute Stimme. Sam?! Was wollte er von ihr? Was hatte er mit ihr vor?! Da überkam mich die Erkenntnis. Er hatte Sam ausgewählt. Mir wurde schlecht. Meine Freundin, die sich so sicher gewesen war, dass er nur Vampire auswählte. Oh, Sam!
Es ertönte ein Geräusch, das klang, als hätte er sie auf den Boden geschubst.
„Gut, Sam, du wirst hier bleiben, während ich deine schöne Schule noch etwas in Angst und Schrecken versetzte. Verstanden?" Stille. „Hast du mich verstanden?!", schrie Dragozius.
„Ja."
„Ich schließe dich selbstverständlich ein. So dumm bin ich nicht. Schließlich bist du nicht die Erste, nicht wahr?" Er lachte gehässig.
Er wollte uns einsperren?! Entsetzt sah ich zu Raphael. Er schüttelte den Kopf, als könne er das nicht zulassen. Man hörte Schritte, wahrscheinlich Dragozius, der auf dem Weg zur Tür war.
Plötzlich stieß Raphael die Decke weg. Gleißendes Neonlicht blendete mich und ich blinzelte verwirrt. Er war aufgesprungen und hechtete über die Kisten auf Dragozius zu. Was hatte er vor? Ich erhob mich. Das alles war innerhalb zwei Sekunden geschehen. Sam starrte mich erst erstaunt, dann erfreut an. Ich lächelte ihr schwach zu. Dann sprang ich ebenfalls über unsere Mauer aus Kartons und packte Dragozius freien Arm, der damit, von zwei Teenagern in einem vermeintlich leeren Kellerraum gepackt zu werden, überhaupt nicht gerechnet hatte. Raphael hielt seinen anderen fest und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Es krachte fürchterlich. Ich zuckte zusammen.
Sam saß regungslos in der Ecke und war vor Angst erstarrt.
Dragozius fauchte und bleckte seine langen Reißzähne. Ich wich leicht zurück. Raphael jedoch trat ihm vor das Schienbein, sodass er einknickte.
„Ihr verfluchten ...", presste der Vampir hervor und krümmte sich vor Schmerz. Er knurrte und erhob sich so ruckartig, dass unser Klammergriff sich für einen Moment löste. Er trat mit seinem unverletzten Bein heftig in Raphaels Rippen. Sam und ich schrien auf. Er ging zu Boden und krümmte sich zusammen.
„Raphael, alles okay?", fragte ich hektisch und ließ Dragozius los, um mich über Raphael zu beugen.
„Ich denke nicht!", krächzte der mühsam. Blut rann zwischen seinen Fingern, die seinen Brustkorb umklammerten, hervor.
„Oh mein Gott!", rief ich. Es war viel Blut. Sehr viel.
Dragozius trat mir halbherzig gegen das Bein. „Dachtet ihr im Ernst, ihr könntet Dragozius töten? Niemand kann mich töten! Keinem ist es bis jetzt gelungen!" Er lachte laut auf. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen. Dieser selbstverliebte alte Sack!
„Raphael, steh auf! Bitte!", flehte ich ihn an.
„Ich kann nicht! Ich kann mich nicht bewegen.", presste er hervor. Auch das noch ...
Dragozius hatte sich in der Zwischenzeit Sam zugewandt. „Komm, meine Kleine! Es ist Zeit zu  gehen. Dragozius wird seinen Besuch hier heute mal etwas abkürzen."
"Sie gehen nirgendwo hin!", schrie ich und stand auf. Was glaubte er eigentlich?! Ich fauchte und knurrte. Dieser Mistkerl. Los, konzentrier dich Lia! Es hat doch schon einmal geklappt! Bitte, bitte, auch diesmal! Ich fauchte erneut und merkte wie mein Rücken sich durchbog. Ja ... Los, los, los! Meine Hände und Füße wurden zu Pfoten. Meine Zähne zu Reißzähnen. Ja! Es hatte zum zweiten mal geklappt! Knurrend stürzte ich mich auf ihn. Dragozius hatte Sam schon hochreißen wollen, doch ich war schneller. Ich sprang ihm auf die Brust und biss ihm in den Arm. Blutgeschmack machte sich in meinem Mund breit.
„Ahhh!", er schrie schmerzerfüllt auf. Und seine Zähne näherten sich meiner Pulsader. Oh nein! Mit einem Prankenschlag schlug ich ihm seitlich an den Kopf. Er wurde ohnmächtig. Ich ließ von ihm ab, schloss die Augen und konzentrierte mich erneut. Komm schon!
Als ich sie wieder öffnete, hatte ich wieder meine menschliche Gestalt angenommen.
„Das, das war ...", setzte Sam an. Raphael lag reglos da.
„Keine Zeit!", schrie ich und half Sam hoch. „Bist du verletzt?"
„Mein Arm hat was abbekommen. Aber ich glaube, er ist nur geprellt.", antwortete sie und lief zu Raphael. „Ich glaube, ihn hat es schlimmer erwischt!"
Ich nickte. Er sah gar nicht gut aus. Das Gesicht blass, die Kleidung blutdurchtränkt. Ich rüttelte an seinem Arm. „Raphael! Wach auf! Wir müssen weg!"
Erst passierte nichts und ich befürchtete schon das Schlimmste, doch dann machte er langsam die Augen auf. Sein Blick war stumpf und seine Augen irrten umher.
„Ganz ruhig!", murmelte ich und stützte ihn. „Komm, du musst dich aufsetzten. Ich habe Dragozius außer Gefecht gesetzt, aber er kann jede Minute aufwachen!"
„Ich nehme seinen linken Arm, du den rechten." Sam hakte ihn mit ihrem gesunden Arm unter. „Okay, auf drei stehst du auf!"
Er nickte nur und drohte wieder wegzukippen.
„Eins, zwei, drei!", rief Sam und wir hievten ihn mühsam hoch. Kaum war er auf den Beinen ging es zur Tür und raus. Im Flur war alles ruhig und lag verlassen da. Keine Spur von Dragozius Ankunft. Ich ließ Sam die Tür zum Raum abschließen und stützte währenddessen Raphael.
„Fertig!", verkündete sie strahlend und wir drei wankten erschöpft zur Treppe.
„Jetzt hoch ins Krankenzimmer!", murmelte ich.

Irgendwie hatten wir es in das im zweiten Stock liegende Krankenzimmer geschafft. Sam und Raphael waren behandelt worden und lagen jeweils in Krankenhausbetten, die Decken bis zum Kinn. Auch mich hatte man nach einer Untersuchung gefragt, doch ich hatte abgelehnt. Mir ging es gut. Ich hatte während ihrer Behandlung die ganze Zeit an ihren Betten gesessen und ihnen beigestanden. Nun war ich völlig fertig und sowohl mit den Nerven als auch körperlich am Ende. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und musterte die zwei, wie sie friedlich schliefen. Es war zwei Uhr morgens und der Mond warf helles Licht durch die Fenster. Eine Krankenschwester überprüfte Raphaels Zustand alle fünfzehn Minuten. Er hatte einen schweren Schlag erlitten und hatte genäht werden müssen. Jetzt lag er da wir ein Unschuldsengel. Ich lächelte und stand auf.
Ich hatte noch etwas zu erledigen.

Unten im Keller bekam ich eine Gänsehaut. Der Gang lag dunkel und verlassen da. Hier war ich vor wenigen Stunden noch gewesen. Gut, dass am Ende doch noch alles gut ausgegangen war. Doch ich hatte mich zu früh gefreut.
Langsam näherte ich mich der Tür. Etwas stimmte nicht. Stirnrunzelnd ging ich näher ran. Die Tür stand offen und  war an der Innenseite völlig zerkratzt. Ich warf einen Blick in den Raum. Er war menschenleer.
Dragozius war entkommen.

Werwolfsnacht - Die Chroniken von IntoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt