Kapitel 26

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Helles Sonnenlicht, das durch die halbgeschlossenen Vorhänge fällt, weckt mich am nächsten Morgen.
Ich blinzle, doch meine Lider sind immer noch viel zu schwer, als dass ich sie öffnen könnte.
Stattdessen rühre ich mich nicht von der Stelle und genieße stattdessen die Wärme der Decke, die mich weich umhüllt. Ich will mich auf die Seite drehen, doch in dem Moment, in dem ich das versuche, werde ich von der Decke, die über mir liegt aufgehalten.
Verwirrt greife ich nach der Decke… und halte schlagartig inne.
Ich muss mich gar nicht erst umdrehen um zu wissen, wessen Arm sich um mich gelegt hat. Die Wärme, die ich eben noch mit der Decke begründet habe, geht von dem Körper aus, der sich von hinten an mich gelegt hat und in regelmäßigen Abständen ein- und ausatmet.
Leise seufzend lasse ich mich zurück in das Kissen sinken und blicke schmunzelnd auf unsere aufeinanderliegenden Handflächen.
Langsam, damit ich ihn nicht wecke, löse ich seinen Arm ein wenig, sodass ich mich zu ihm umdrehen kann.
Im Schlaf sieht Santiago beinahe aus, wie ein kleiner Junge. Seine Gesichtszüge sind vollkommen entspannt und friedlich und bei jedem Atemzug fällt ihm sein offenes Haar ein wenig tiefer in die Stirn.
Vorsichtig hebe ich eine Hand und streiche ihm das Haar aus dem Gesicht. Noch nie habe ich ihn so sorglos gesehen… Ich wünschte, ich könnte ihn öfter so sehen…
„Das wünschte ich auch, Lucía“
Erschrocken zucke ich zusammen und blicke keine zwei Sekunden später in die geöffneten, blauen Augen, die nur wenige Zentimeter von mir entfernt sind.
Beschämt schüttle ich den Kopf. „Habe ich das etwa gerade laut gesagt?“
Ein Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. „Ich bin froh, dass mir dieser Satz nicht entgangen ist“, erwidert er, umfasst meine Taille und drückt mich enger an ihn, sodass ich seinen Geruch nach frischer Luft und Gras tief einatmen kann.
Ich stutze. „Du warst schon draußen?“, frage ich und lehne mich zurück, damit ich ihn ansehen kann.
Er seufzt und steckt mir eine Haarsträhne hinters Ohr. „Dir kann man aber auch nichts vormachen“ Mit einer fließenden Bewegung steht er auf und öffnet die Vorhänge, sodass das Zimmer hell durchflutet wird und ich es nun zum ersten Mal betrachten kann, ohne den Gedanken eines verwundeten Santiagos dauerhaft im Hinterkopf zu haben. Stattdessen vermischt sich der Anblick des hellen und freundlichen Raumes mit der Erinnerung an eine Nacht ohne Albträume – für jeden von uns.
„Du solltest dich fertigmachen, Lucía“, sagt er auf einmal und reißt mich damit völlig aus meinen Gedanken. „Sofia hat dir bereits Kleidung zurechtgelegt. Wir werden für einige Tage verreisen.“
Verreisen? Stutzig hebe ich den Kopf und sehe ihn an, doch seine Miene ist vollkommen ausdruckslos, sodass ich keinerlei Zugang zu seinen Gedanken habe. Wohin sollten wir so spontan reisen? Mit Sicherheit weiß er früher über Dinge dergleichen Bescheid, oder nicht? Es sei denn…
Ich schnappe nach Luft. Irgendetwas muss passiert sein… Ansonsten würde er mich doch niemals so kurzfristig informieren?
„Beruhige dich, Lucía“, höre ich plötzlich Santiagos Stimme und im selben Augenblick greift seine Hand nach meiner. „Es ist alles in Ordnung. Ich bitte dich, mach dich fertig, in einer Stunde fährt unser Zug.“
Zug? Wieso Zug? Seit wann reist er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln? Mein Vater hat mir immer gesagt, dass geschäftliche oder politische Reisen hauptsächlich über den Luftweg vonstattengehen, aus zeitlichen Gründen. Meine Anreise, hierher nach Carazita ist deswegen eine Ausnahme gewesen, weil unser Land keine Flugzeuge gestattet. Sie würden die Luftverschmutzung zu stark erhöhen, sodass mein Vater vor vielen Jahren beschlossen hat, diese Art von modernem Fortbewegungsmittel zu verbieten.
„Und… Lucía?“
Ich drehe mich zu ihm um und blicke ihn erwartungsvoll an. „Was ist?“
Er lächelt sanft. „Ich würde es schätzen, wenn du nicht das Treppenhaus benutzt, um nach unten zu gelangen. Das soll ein… Geheimnis zwischen uns beiden bleiben… wenn das für dich in Ordnung ist.“
Ich erwidere sein Lächeln, setze mich auf und verlasse mit langsamen Schritten das Zimmer.
Doch kaum habe ich die Zimmertür hinter mir zugezogen, werde ich auch schon von Sofia überfallen.
„Eure Majestät, da seid Ihr ja! Schnell, Ihr müsst Euch fertigmachen!“ Sie seufzt. „Dios mio, was habt Ihr nur mit Eurem Haar gemacht?“
Verdutzt greife ich mir ins Haar. Nicht nur, dass mein Haar noch viel gelockter ist, als ohnehin schon, es ist auch noch schrecklich zerzaust. Doch zu meiner eigenen Verwunderung scheint es Sofia kein bisschen unangenehm zu sein, mich gerade dabei ertappt zu haben, wie ich aus Santiagos Schlafzimmer gekommen bin.
Stattdessen greift sie nach meiner Hand und scheucht mich hinunter in mein Schlafzimmer, in dem sie bereits ein dunkelblaues, weit ausgestelltes Kleid mit goldener Brosche zurechtgelegt hat.
Ich runzle die Stirn und nehme die Brosche in die Hand. Das Wappen Carazitas – ein silbernes Rad vor einer grünen, bergigen Landschaft – ziert die Brosche und auch die Tatsache, dass das Kleid die Nationalfarbe des Landes trägt, zeigt mir bereits, was der wahre Sinn dieser Kleidung ist.
Ich schlucke. Ich soll Carazita repräsentieren. Nicht mehr Avenia. Mein Land, meine Heimat, ist nun dieses Land. Dieses Land, dessen wirtschaftliche Kraft so stark ist, dass sie das Rad, als eingesetztes, dynamisches Mittel in der Produktion, ihrem Wappen hinzufügen, sodass jeder sehen kann, wie wohlhabend und mächtig es ist.
Ich brauche gar nicht lange überlegen, wer diese Kleidung verordnet hat.
Ich soll König Mateo überzeugen. Und diese Kleidung soll mich an unsere Abmachung erinnern…
„Ihr seht atemberaubend aus, Eure Majestät!“ Sofia umkreist mich und betrachtet mich von allen Seiten.
Keine Frage, das Kleid und auch das Schmuckstück sind wunderschön. Und dennoch… Ich habe das Gefühl, eine Fremde würde mir im Spiegelbild begegnen. Weil mein Haar so zerzaust war, hat sich Sofia schlussendlich dazu entschlossen, mein Haar zu einem seitlichen Zopf zu flechten, der mir leicht über die Schulter fällt.
Ich sehe aus, wie Königin Virginia, kommt es mir schlagartig, doch ehe ich einen weiteren Gedanken darüber verschwenden kann, klopft es bereits an der Tür und Francisco öffnet die Tür, gefolgt von Santiago.
Wie an meinem ersten Tag in Carazita, trägt er eine dunkelblaue Uniform, die von mehreren goldenen Medaillen geziert wird.
Ich spüre, wie ein Stechen mein Herz durchfährt, denn der Santiago, wie ich ihn nun vor mir sehe, erinnert mich schrecklich stark an seinen Vater. Ich bin an den Santiago gewohnt, dem ein weißes Hemd mit schwarzer Hose genügt, um Andere in seinem Arbeitszimmer zu empfangen.
„Wir müssen los, Eure Majestät“, erklärt mir Francisco und sieht mich erwartungsvoll an.
Meine Augen suchen nach den meerblauen Augen, mit den goldenen Sprenkeln und lediglich eine Sekunde genügt, um seinen Schmerz zu erkennen.
Um zu erkennen, dass er niemals von mir verlangt hätte, diese Kleidung zu tragen. Und um zu erahnen, dass irgendetwas gerade vollkommen falsch läuft.

Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt