1.| Thunderclouds

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Das Leben ist scheiße.

Genau dieser Satz schoss mir durch den Kopf, als ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen steckte und hinunter in die Tiefe sah. Von unten vernahm ich gedämpfte Verkehrsgeräusche und die Lichter bildeten einen starken Kontrast zu der Dunkelheit, die London umhüllte.

In diesem Moment fühlte ich nichts. Und es war erleichternd, nicht ständig meinen Gefühlen ausgesetzt zu sein. Ich dachte über nichts nach, genoss die Stille und die Ruhe, die ich auf dem Dach des Krankenhauses hatte. Nicht lange und sie würden mein Verschwinden bemerken. Und überhaupt war es ein Wunder, dass ich es hier aufs Dach geschafft hatte.

Ich zog an meiner Kippe und atmete den Rauch geräuschvoll aus. Bald, bald war ich frei.

Der Wind fegte mir durchs Haar und ich musste zugeben, dass es hier oben ganz schön kalt war. Ich trug nicht mehr als eine alte löchrige Jogginhose und ein graues T-Shirt.

Bald würde ich so oder so nichts mehr spüren.

Ich drückte die Zigarette aus und schmiss sie in die Tiefe. Mein Herz schlug aufgeregt gegen meine Brust.
Ich holte tief Luft und trat an den Rand des Daches. Der Wind war stärker und zerrte an mir. Ich wollte frei sein. Endlich frei sein.

,,Fickt euch.", presste ich zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor und wollte gerade den letzten und entscheidenden Absprung machen, als eine Stimme hinter mir ertönte.

,,Ehm, bist du gerade dabei zu springen?"

Völlig entgeistert drehte ich mich um und blickte in das Gesicht eines Jungen. Er stand dort einfach so, ein paar Meter von mir entfernt, und sah mich an. Er war vollkommen in schwarz gekleidet, weshalb ich seine Umrisse kaum erkennen konnte. Sein Gesicht war in der Dunkelheit gut versteckt, doch ich erkannte die jungendlichen Gesichtszüge. Er war ungefähr in meinem Alter.

,,Wer zur Hölle bist du und was willst du hier?", fuhr ich ihn an. Ich konnte nicht glauben, was gerade passierte. Wie war er hier bitte hinaufgekommen? Und wie lange stand er schon dort?

Er hob beschwichtigend die Hände. ,,Chill, ich will dich nicht abhalten oder so." Er schien kurz zu zögern, ehe er schnell hinzufügte. ,,Um ehrlich zu sein, warte ich darauf bis du endlich abspringst."

Ich blinzelte ihn verständnislos an. ,,Was?"
Er seufzte. ,,Ich bin nicht hier oben um die scheiß Aussicht zu bewundern."
Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich verstand. Mit großen Augen sah ich ihn an. ,,Du willst auch springen?"

Er nickte und verschränkte die Arme vor der Brust. ,,Also, was ist dein Grund?"
Mir war diese ganze Situation verdammt unangenehm. Ich war hier, um dieser scheiß Welt Adieu zu sagen und hatte damit gerechnet mitten in der Nacht, auf dem Dach eines Krankenhauses, niemandem zu begenen. Aber statt dass ich endlich frei war, kam mir dieser Typ, wer auch immer er war, in die Quere. Ich wusste dass meine Zeit tickte. Ich musste mich beeilen.

,,Das geht dich nichts an und jetzt hau ab!"
Ich hörte ihn leise lachen. Mir fiel auf, wie tief und rau seine Stimme eigentlich war. Vielleicht war er doch ein wenig älter, als ich ihn eigentlich geschätzt hatte.
,,Da ist jemand aber ziemlich zickig."
Ich ignorierte ihn, drehte mich um und warf wieder einen Blick in die Tiefe. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Das war wirklich verdammt hoch.

,,Also ... nur zu deiner Information. Wenn du dort runterspringst, kannst du nicht erwarten dass deine Leiche danach schön aussieht. Ich meine, auf einer Beerdigung möchte man ja eigentlich anständig aussehen. Aber dein Körper wird, nach dem du auf dem Boden aufkommst, zermatschter Brei sein."
Ich hörte an seiner Stimmlage dass er sich über mich lustig machte.
Wütend funkelte ich ihn an. ,,Was willst du?"
Meine Beine fingen an zu zittern. Herr Gott, warum hatte niemand bisher gesagt das Springen so verdammt schwierig war? Ich hätte auch einfach zum Strick greifen können. Das wäre vermutlich einfacher gewesen.

,,Ich warte bis du endlich fertig bist. Oder soll ich als Erstes springen?"
Er tat so, als wäre es das Normalste auf der Welt, dass wir hier beide, mitten in der Nacht, auf dem Dach eines Krankenhauses standen und uns das Leben nehmen wollten.

,,Hau endlich ab!" Meine Stimme war lauter als beabsichtigt.
,,Wenn du willst dass die anderen Arschlöcher uns finden, dann nur zu. Schrei lauter." Er sah mich nachdenklich an, bis sich plötzlich, und das erkannte ich selbst durch die Dunkelheit, ein Grinsen auf seinen Lippen ausbreitete. ,,Du hast Höhenangst!"
Ich stöhnte frustriert, ließ mich auf den Rand des Daches sinken und vergub das Gesicht in den Händen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Ich wollte, verdammt nochmal, frei sein und dieser Schwachkopf stellte sich mir in den Weg.

,,Lass mich einfach in Ruhe.", flüsterte ich, auch wenn er es nicht hören konnte.
,,Na schön." Er zögerte, ehe er hinzufügte. ,,Ich schubs dich, wenn du willst."
Ich sah auf und merkte, dass er mir näher getreten war. Die schwachen Verkehrlichter erhellten ein Stück weit sein Gesicht, weshalb ich ihn besser erkennen konnte. Er hatte braunes, fast schwarzes lockiges Haar und dunkle Augen. Jetzt, wo ich ihn so ansah und er vor mir stand, sah er ein wenig älter aus.

Sein Gesicht war plötzlich ernst. ,,Du musst nicht springen, wenn du nicht willst."
Ich sah ihn weiterhin an, bis mir klar wurde dass er nicht hier war, um zu springen. Er war hier, um mich abzuhalten.
Entgeistert starrte ich ihn an und wollte gerade etwas ansetzen, als ich plötzlich laute Schritte vernahm und Stimmen, die durcheinander sprachen. Sie kamen das Dach hinauf.

Ich sprang sofort auf. ,,Du Mistkerl! Du hast mich verraten!"
Er hob abwehrend die Hände. ,,Nein, ich habe einfach nur versucht dich abzulenken."
,,Du wusstest genau dass die Ärzte mich bald finden!"
Ich spürte die Panik in mir aufkommen, weshalb ich mich wieder zum Abgrund wandte. Ich hatte keine Zeit mehr. Ich musste es jetzt tun.

,,Tu's nicht." Seine Stimme klang ernst und fest. ,,Das willst du nicht tun, glaub mir."
,,Du bist ein verdammtes Arschloch, als ob ich auf dich höre! Wir kennen uns nicht einmal!"
Nun vernahm ich die Stimmen ganz klar und ich hörte die schnellen Schritte, die sich auf dem Kies bewegten.

Ein kleiner Schwarm von weiß gekittelten Menschen eilten auf das Dach.
Ich war so perplex, dass ich gar nicht merkte wie zwei Hände nach mir griffen und mich vom Rand hinunterzogen. Unsanft landete ich auf dem harten Grund und als ich meinen Kopf hob, starrte ich direkt in sein Gesicht. Ich erkannte Mitleid in seinen Augen. Doch die Wut und die Fassungslosigkeit durchströmte mich.

,,Nein!" Mein Schrei zeriss die Luft und ich versuchte mich gegen die vielen Hände zu wehren, die nach mir griffen.
Ich wurde weggezogen, weg von ihm und weg von meiner Freiheit, der ich zum ersten Mal so nah gewesen war.
Und während die Ärzte mir irgendeine Art Beruhigungsmittel in den Arm spritzten, sah ich ihn die ganze Zeit an. Er stand dort einfach so, die Ärzte schienen ihn nicht einmal wirklich zu beachteten. Ich kannte ihn nicht. Ich wusste nicht einmal wie er hieß oder woher er kam. Und doch hatte er es geschafft mich zu retten, obwohl ich von niemandem gerettet werden wollte.

Die Stimmen wurden immer leiser und auch meine Augen wurden schwerer. Und das Letzte, an was ich mich erinnerte, war die Hoffnung, die in dieser Nacht, endgültig in mir  starb.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 07, 2018 ⏰

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