Eiserne Ketten

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Claire wimmerte. Die Eisenketten zerrten an ihren Gelenken. Gedämpfte Stimmen sickerten aus dem Raum über ihr - dem Plenarsaal.
Ihr Kopf schmerzte und die klaffende Wunde am linken Bein brannte höllisch. Sie hatten auf ganzer Linie versagt. Sollten sie hier lebend rauskommen, standen sie vor einer ungewissen Zukunft.
Ihr Bruder Liam wirkte benommen und hing schlaff in seinen Ketten. Ihn zierte eine Platzwunde über dem linken Auge und sein T-Shirt war so weit aufgeschlitzt, dass man die vielen Blutergüsse auf seiner Brust sehen konnte.
Gegenüber waren Ava und Eric an die Wand gekettet. Die beiden unterhielten sich leise. Ava's blonde Haare waren dreckig und ihre sonst glänzenden Augen wirkten trüb und abgestumpft, im düsteren Licht der Fackeln. Sonst schien es ihr gut zu gehen. Eric dagegen hatte ein blaues Auge und seine Haare waren an einer Seite kürzer. Die Klinge eines Angreifers war nur knapp an seinem Kopf vorbeigezogen.
Claire musterte sich im Spiegel, der gegenüber an der Wand hing. Ihre roten Haare erinnerten eher an ein Vogelnest und man sah ihr deutlich an, dass sie in den letzten Wochen nicht genug zu essen hatte. Ihr Oberschenkel hatte sich inzwischen wieder beruhigt und ließ sich normal bewegen. Zum Glück war die Klinge nicht tief in ihr Bein eingedrungen, sondern hatte sie nur gestreift.
Es fühlte sich an, als wären Stunden vergangen, als sich endlich die Tür öffnete. Ein Mann trat ein, er trug einen schwarzen Umhang und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen, sodass Claire  sein Gesicht nicht erkennen konnte. Er schloss die Tür und trat einige Schritte auf sie zu. Die Stimmen aus dem Plenarsaal waren immer noch zu hören und dröhnten laut in ihrem Kopf.
Er stand jetzt so nah vor ihr, dass sie die Wärme, die von seinem Körper ausging, spüren konnte. Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken und ihr Herz fing an zu rasen. Als er seine Hand hob und ihr sanft über die Wange strich, spannte sich alles in ihr an. Wäre sie nicht fest gekettet gewesen, wäre sie unweigerlich zurückgewichen.
Mit einer ruckartigen Bewegungen zog er seine Hand zurück. Ein Surren war zu hören und Claire zuckte zusammen, als ihre Ketten mit einem lauten Scheppern zu Boden fielen. Der Fremde war zurück getreten und wand sich nun Liam zu. Auch ihn befreite er von den Ketten und half ihm sogar aufzustehen. Verwirrt rieb sich Claire ihr Handgelenk. Wer war er und warum machte er sie los?
Ava und Eric, ebenfalls frei, waren anscheinend genauso ratlos und folgten einfach dem Mann, der stumm zur Tür gedeutet hatte, nach draußen.
Hinter der Tür erwarteten sie zu ihrer Überraschung keine Wachen. Der Fremde schritt zügig den Gang entlang und sie hasteten hinterher. Aus dem Augenwinkel konnte Claire zwei Männer in einer Nische liegen sehen. Ihre Uniformen waren blutverschmiert und einige Gliedmaßen standen in unnatürlichen Winkeln vom Körper ab. Schnell wand Sie den Blick ab und unterdrückte den Drang sich zu übergeben. Die vier folgten dem Mann durch ein Labyrinth aus schier endlosen Gängen.
Sie begegneten niemanden, aber Claire glaubte aus manchen Abzweigungen Kampfgeräusche zu hören. Sie blieben so plötzlich vor einer Aufzugtür stehen, dass Claire fast in Eric hinein gelaufen wäre. Der fremde Mann drückte den Knopf und Sekunden später öffnete sich die Tür. Aus dem Aufzug trat ein zweiter Mann, der ebenfalls eine Kapuze trug.
Er drückte dem ersten Mann etwas in die Hand und verschwand dann in einem der Gänge. Sie betraten den Aufzug. Der Fremde trat an das Schaltpult und drückte den Knopf auf dem Atrium stand. Der Aufzug setzte sich in Bewegung und fuhr schnell nach oben, sodass Claire erstmal ihr Gleichgewicht wieder finden musste.
Der Aufzug kam zum stehen und als die Türen sich öffneten, drückte der Mann Claire den Gegenstand, den er bekommen hatte, in die Hand.
Das Atrium war ebenso menschenleer. Am Ende konnte man durch ein großes Portal den Sternenhimmel sehen. Das erste und letzte Wort, was der Fremde sagte, war ein „Lauft" und schon war er in eine andere Richtung verschwunden.
Die vier sprinteten los. Claire's Bein hatte wieder angefangen zu schmerzen. Doch sie ließ sich davon nicht beirren. Sie stürmten durch das Tor hinaus in die Nacht. Während des Rennens öffnete Claire ihre Hand, darin lag ein Medaillon. Darauf bedacht nicht über ihre Füße zu stolpern klappte sie es auf. Ein Mann und eine Frau lächelten sie fröhlich aus dem Bild heraus an. Ihre Eltern. Eine Träne lief ihr über die Wange. Sie waren schon seit  Jahren tot. Claire schloss ihre Hand wieder fest um das Medaillon und rannte weiter hinaus in den Wald, geradewegs in die Freiheit.

Eiserne Ketten [One Shot]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt