In einer alten, wirklich alten und ziemlich verstaubten Bibliothek, einer Bibliothek, voller Bücher, alle alt, vergilbt und in Leder gebunden. In einer Bibliothek in der sich niemals ein Besucher und niemals ein Leser hineinverirrt. In einer Bibliothek in der die Stille allgegenwärtig zu sein scheint. Dort tragen die Bücher Namen auf ihrem Rücken. Keine Titel, sondern richtige Namen. Und sie erzählen alle eine Geschichte. Die Geschichte der Person, deren Namen sie tragen. Die Vergangenheit, die Gegenwart und auch die Zukunft stehen in ihnen geschrieben, so erzählt man es sich. Doch nie hat irgendein Auge jemals diese Zeilen gelesen. Noch nie hat auch nur ein Fuß die Bibliothek betreten, so sagt man. Doch wenn noch nie jemand diese Bibliothek und ihre Bücher gesehen hat, woher stammt dann die Geschichte über sie? Wer schrieb diese ganzen Bücher und wer brachte sie dort hin?
Vor langer Zeit irrte einmal ein kleines Kind einsam und verzweifelt durch die Straßen einer großen Stadt. Seine Eltern hatte im Trubel der Menschenmenge verloren. Die Menschen jedoch schritten bloß an ihm vorbei. Drehten sich nicht um und blieben niemals stehen. Die Leute, die an ihm vorbeigingen warfen ihm böse Blicke zu, denn das Kind es war stehen geblieben. Ängstlich und mit flehendem Blick, starrte es in ein Gesicht nach dem anderen. Es fürchtete sich, so ganz allein und zitterte. Bis es ein leises Flüstern hörte. Eine Stimme wisperte ihm zu. Nein, nicht eine, sondern mehrere. So viele winzige Stimmen, dass es sie nicht zählen konnte und sie alle flüsterten ihm zu: „Hab keine Angst."
Das Kind, es sah sich um. Woher kamen nur diese vielen Stimmen? Da entdeckte es ein kleines Häuschen. Dort, wo vor Sekunden noch nur eine Gasse gewesen war. Langsam schritt das Kind darauf zu und die Stimmen wurden deutlicher und immer lauter. Doch niemals wurden sie lauter als ein Flüstern. Das Kind stand vor der Tür und zögerte. Doch die Stimmen kamen eindeutig von dahinter. Vorsichtig trat es ein und in dem Moment, als sich die Tür wieder hinter ihm schloss, verstummten die Stimmen. Es war in einer Bibliothek. Regal an Regal standen unzählbar viele Bücher und sie alle trugen einen Namen auf den Rücken. Das Kind lief durch die Regale. Es war nur ein kleines Kribbeln in den Fingerspitzen und doch schien es ihm zu sagen, wo es hinmusste. Das Kind lief und lief, so lange, bis es auf einem der Bücher seinen Namen entdeckte. Gleich daneben fand es die Bücher seiner Eltern. Auch das Kind hatte die Geschichte der Bibliothek gehört und es dachte sich: „Also ist es wahr. In diesem Buch steht meine Geschichte. Das was schon war, das was ist und das was sein wird." Einerseits war es glücklich, denn es musste ja nur nachlesen, wo und wie es seine Eltern in der Zukunft finden würde. Doch andererseits war es traurig, so war doch sein ganzes Leben bereits in diesem Buch festgeschrieben. Was für einen Sinn machte es dann überhaupt noch dieses Leben zu leben? Trotzdem schlug es das Buch auf. Schnell fand das Kind die Stelle, an der es in der Straße verloren ging. Es las über seine Angst und über die Stimmen, die sie hierherführten. Es las, darüber, wie es in den Gängen zwischen den Regalen hin und herlief und schließlich wie es das Buch fand und zu lesen begann.
Es blätterte um. Doch die nächste Seite war leer. Es blätterte weiter. Wieder leer. Alle weiteren Seiten des Buches waren leer. Da begriff es, es folgte keineswegs einem festgelegten Pfad. Die Seiten waren leer, denn die Zukunft war noch nicht geschrieben worden. Da schlug es die Bücher seiner Eltern auf und las, wie diese nach ihrem Kind riefen und die Straße auf und ab liefen. So schnell es konnte lief es zurück bis zur Tür, hindurch und hinaus auf die Straße. Es musste kaum ein paar Meter laufen, da schlossen es seine Eltern auch schon in ihre Arme. Und im Stillen, nur für sich beschloss es seine Seiten mit den schönsten Geschichten, die es sich nur vorstellen konnte zu füllen. So lange bis es auch irgendwann nach einer langen, fröhlichen Zeit auch die letzte leere Seite beschrieben war.
DU LIEST GERADE
Leere Seiten
Short StoryIn einer alten, wirklich alten und ziemlich verstaubten Bibliothek, einer Bibliothek, voller Bücher, alle vergilbt und in Leder gebunden. In einer Bibliothek in der sich niemals ein Besucher und niemals ein Leser hinein verirrt. In einer Bibliothek...