7.Kapitel

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Draußen sah ich mir den Zettel etwas genauer an, auf dem der Name Jessica und eine Telefonnummer standen. Obwohl ich sie etwas merkwürdig fand, schien sie ganz nett zu sein. Ich verstand jedoch immer noch nicht, was genau sie mit ‚in Acht nehmen' meinte, waren diese Typen echt so gefährlich? Tief in Gedanken versunken lief ich die schwach beleuchteten Straßen entlang. Als ich zuhause ankam, entschied ich mich, ihr zu schreiben da mich ihre Aussage den ganzen Nachhauseweg lang beschäftigte.

Hey, hier ist Kaya vom Lidl gestern :) du hast mir noch garnicht erzählt warum diese Typen so ‚gefährlich' sind lol

Oh man. Wie cringy war diese Nachricht bitte? Genau deswegen schrieb ich mit fast niemandem. Naja. Deswegen und weil ich keine Freunde zum Schreiben hatte... Sad life.
Da ich mir ziemlich sicher war, dass sie noch arbeitete, legte ich mein 3 Jahre altes, halb zerbröckeltes Handy beiseite und fing an, mich für den morgigen Tag vorzubereiten. Während ich meinen Ranzen mit den für morgen benötigten Büchern zustopfte, brutzelte die Pizza, die ich davor in den Ofen geschoben hatte, friedlich vor sich hin. Nach 20 Minuten holte ich sie raus und machte den Fernseher an, damit es nicht so leise in dieser einsamen kleinen Wohnung war.

Ich hasste Stille. Schon immer. Aber in den letzten Jahren war sie für mich immer unerträglicher geworden, und immer wenn es still war fingen die Stimmen in meinem Kopf wieder an, mir die schlimmsten Vorwürfe zu machen. Vielleicht war ich verrückt, aber das würde nie jemand erfahren. Ich würde niemals mit irgendjemandem über meine Gefühle reden, das war meine allererste Vorschrift. Die einzigen, die von meinen Sorgen wussten, waren ich und mein Tagebuch. Die beste Therapie für mich war das Schreiben und mein Tagebuch war mein Heiligtum, ich würde es niemals jemandem anvertrauen, nicht mal meiner engsten und so ziemlich einzigen Freundin Mia.

Apropos Tagebuch, ich sollte vielleicht mal wieder etwas reinschreiben. Ich holte es aus meinem Geheimversteck, welches im zweiten Küchenschrank von links hinter meinem viel zu großen Cornflakes-Vorrat lag, heraus und fing an, meinen Tag bzw. meinen Traum von heute Nacht zu dokumentieren, da ich nur die für mich wichtigen Sachen, die etwas mit meiner Familie und meinen abgefuckten Gedanken zu tun haben, aufschrieb. Dazu zählen Träume (soweit ich mich an sie erinnern kann), gemeinsame Erinnerungen die mir manchmal spontan einfielen, Bilder, Gedanken, wie es wohl wäre, nicht mehr zu existieren (nicht gerade normal, ich weiß) und Songtexte, die ich manchmal schrieb, um meinen Kummer zu verarbeiten. Letzteres würde jedoch nie benutzt werden, da ich erstens nicht singen konnte und sie zweitens scheiße und kitschig klangen. Jedenfalls war dieses Tagebuch die einzige Methode, meine Gedanken zu verarbeiten, die ich mir leisten und auch aushalten konnte, da es keine Wahl hatte, mir zuhören musste, und mir nicht einreden konnte dass meine Gedanken falsch und schädigend für die Psyche seien.

Während im Hintergrund eine Folge Friends lief, genoss ich meine Pizza und schrieb auf, woran ich mich von heutiger Nacht noch erinnern konnte.

Liebes Tagebuch,
Heute Nacht hatte ich mal wieder einen Albtraum, er war wahrscheinlich einer der schlimmsten bis Jetzt.
Es fing an mit dem Klingeln der Schulglocke. Es war 16 Uhr und ich machte mich mit meinen damaligen Freunden nach dem Nachmittagsunterricht direkt auf den Weg zu einem von ihnen nach Hause, da dort eine Party stattfand. Wir tranken viel zu viel, lachten, tanzten und hatten Spaß, ich hatte mein Zeitgefühl komplett verloren. Ich weiß zwar nicht, wie es dazu gekommen war, aber auf einmal steckte ich nem Typen, deren Gesicht ich nicht erkennen konnte, die Zunge in den Hals, bis es auf einmal still um uns herum wurde. Es kam Gemurmel von allen Seiten und wir lösten uns voneinander. Ich drehte mich um und sah, wie zwei Bullen das große Wohnzimmer betraten. Einer von ihnen fragte, ob hier eine Kaya Anderson anwesend wäre. Ich stand auf und wankte zu ihnen rüber. Definitiv verwirrt und etwas ängstlich schaute ich sie an und sie teilten mir mit einem Nicken in Richtung Terrasse mit, dass ich mitkommen soll. Ich spürte die kalte Abendluft und sah in den Himmel, welcher wunderschön dunkelblau mit leichten Rosatönen gefärbt war und bereute es, den Sonnenuntergang verpasst zu haben. Die Polizisten sahen sich kurz hilflos an, als wüssten sie nicht, was sie nun sagen sollten. Einer von ihnen räusperte sich schließlich und sah mich mitleidig an.
„Ms Anderson, es tut uns Leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihre Schwester tot am Ufer unter der großen Brücke aufgefunden wurde. Sie scheint ertrunken und angespült worden zu sein...
Den nächsten Teil hörte ich nicht mehr, da mein Körper auf einmal schlappmachte, ich nichts mehr hörte und mir der Boden und mein Lebenswille unter den Füßen weggerissen wurden. Für ungefähr 2 Minuten war alles schwarz. Die nächste Szene sah ich in Zeitlupe. Sie sprang in den Sonnenuntergang und schien für einen kurzen Moment zu fliegen, bis sie schließlich langsam nach unten sank und meine Hoffnung mit jeder Sekunde mehr zerbrach. Diese Szene lief in Dauerschleife bis ich auf einmal Geräusche hörte. Die verzweifelten, leisen und gequälten Stimmen von Mum und Dad und die vor Spott, Hass und Hohn triefenden Stimmen von Ace und meinen ganzen ‚Freunden'. Sie alle haben ihren eigenen Beitrag zu dieser Katastrophe geleistet. Die Stimmen riefen immer dasselbe, alle durcheinander, immer und immer lauter.

Deine Schuld, Kaya, es ist deine Schuld.

Du hättest sie beschützen können.

Du hättest sie retten können.

Du hast alle enttäuscht.

Du wirst für deine Taten büßen.

Du wirst leiden, genau wie deine Schwester.

Niemand wird für dich da sein, genauso wie du nie für sie da warst.

Dir wird dasselbe Schicksal widerfahren wie ihr, nur viel, viel schlimmer, denn mit dieser Tat hast du eine unverzeihliche Sünde begangen.

Das Böse wird dich einholen und so lange leiden lassen, bis du es nicht mehr erträgst und den Weg zur Hölle selbst findest.

Du bist wertlos, du hast das Geschenk des Lebens nicht verdient.

Als ich diese Worte schrieb, liefen mir Tränen in Strömen das Gesicht runter und ich verspürte starken Selbsthass. Ich zwang mich jedoch, den Text zu Ende zu schreiben und das Tagebuch zurück ins Regal zu stellen, auch wenn mir mein Herz dabei unglaublich wehtat, weil die alten Erinnerungen alle wieder hochkamen.

Warum war ich so ein verdammt beschissener Mensch?
Warum bin ich nur so blind und eigensinnig gewesen?
Warum war ich nicht da, als sie mich am Meisten brauchte?

Da sich nun alles in mir schmerzvoll zusammenzog und ich von Panik erfüllt wurde, nahm ich ein Schmerz- und ein Beruhigungsmittel, machte den Fernseher aus, putzte mir die Zähne, schminkte mich ab und legte mich ins Bett, in der Hoffnung bald, möglichst ohne Albträume einschlafen zu können.

Please (don't) Save me.Where stories live. Discover now