Mavis Hände waren ganz schrumpelig und an ihrem Daumen hatte sich bereits eine kleine Brandblase gebildet.
„Du dummer Bengel schneidest zu viel ab!", herrschte einer der Piraten den schmächtigen Jungen neben ihr an. Vor lauter Angst zuckte er zusammen und schnitt sich in den Finger. Auf das klägliche Häufchen geschälter Kartoffeln zu seinen Füßen tropfte etwas Blut.
„Du elender Nichtsnutz!", schimpfte der Pirat, packte den Jungen am Kragen und schleifte ihn mit sich, „Dann geh die Flure und das Deck schrubben, vielleicht taugst du ja dazu etwas, Tölpel!"
Andere Arbeiter sahen den beiden besorgt hinterher, eine Frau seufzte müde. Doch niemand erlaubte sich eine Pause, denn auf einem Stuhl in der anderen Ecke des Raumes saß ein weiterer Pirat, der zwar nur noch ein Auge hatte, dieses aber wachsam auf sie gerichtet hatte. Seitdem die Piraten vor einer Woche das Handelsschiff gekapert und übernommen hatten, waren alle Passagiere – Reisen und Händler, Männer und Knaben, Frauen und Mädchen – Gefangene der Piraten. Die reichen Kaufleute waren beraubt, einer sogar getötet worden. Die Besatzung und einige wichtige Leute wurden in den Zellen festgehalten. Der Großteil der Passagiere war – wie Mavi – nun zur Arbeit und Sklaverei verurteilt, bis die Piraten am nächsten Hafen anlegten und hoffentlich Gnade walten ließen. Das Fußvolk wurde meist freigelassen, wenn ein Passagierschiff gekapert wurde. Aber manchmal ließen sie die Leute einfach über die Planke gehen, im schlimmsten Fall wurden sie als Sklaven oder Organspender auf dem Schwarzmarkt verkauft. Was diese Piratencrew mit ihnen vorhatte, vermochte Mavi nicht zu sagen. Aber bisher hatten sie sich mit Obszönitäten und Gewalt zurückgehalten. Es gab nur Prügel bei Ungehorsam und sie hatte noch von keinen Vergewaltigungen gehört. Vielleicht hatten sie Glück und kamen mit dem Leben davon. Für Mavi wäre es einfacher über die Planken zu gehen, aber für die vielen Familien und älteren Menschen wäre es der sichere Tod. Das Meer war im Moment launisch, die Winde trieben das Wasser zu haushohen Wellen, die erbarmungslos jede kleine Jolle verschluckten. Das war auch der Hauptgrund warum Mavi überhaupt ein Passagierschiff bestiegen hatte. Normalerwiese schwamm sie einen Großteil der Strecke. Dennoch wäre sie lieber im Meer in Schwierigkeiten gewesen, als eingepfercht in einer stickigen Kombüse. Seit Tagen hatte sie keine frische Luft mehr geatmet und die Zeit mit Kartoffeln und Rüben schälen, Wäsche waschen und Hosen flicken verbracht. Die Gefangenen bekamen nur Reste zu Essen und mussten ohne Decken auf dem Boden des Gemeinschaftsraumes schlafen. Ihre Finger waren schon ganz wund und ihre Gelenke taten weh. Mavi hätte gerne randaliert, um über Bord geworfen zu werden, aber man konnte nie wissen, ob man ihr nicht einfach die Kehle aufschlitzen würde. Sie war seit Tagen nicht mehr an Deck gewesen und die frische Meeresluft fehlte ihr. Mavi fühlte sich ausgetrocknet wie eine Dörrpflaume. Geduscht hatte sie seit sechs Tagen auch mehr und ihr Kopf und ihre Füße begannen bereits zu jucken. Das heiße Wasser der Wäsche, mit dem sie sich absichtlich bespritzte, wenn sie konnte, reichte nicht aus um ein Gefühl von Sauberkeit zu erzeugen oder ihre Schmerzen zu lindern. Bald würden sich an ihren Füßen und Fingern Brandblasen bilden, dann würde sich die Haut abschälen, anschwellen und unsagbar schmerzen. Spätestens dann würde irgendjemand Fragen stellen. Was sollte sie den Leuten sagen? Dass sie krank war? Hoffentlich gingen die Piraten mit dem Schiff bald vor Anker, Mavi wusste nicht einmal ob das Schiff den ursprünglichen Kurs zum Archipel hielt oder irgendein anderes Ziel ansteuerte.
Mavis Finger waren klebrig, ihr Rücken schmerzte und sie saß schon seit mehr als einer Stunde auf der Stelle und schälte Kartoffeln. Sobald der Bottich voll war, wurden die ganzen Knollen weggetragen und es war Mavi, als müsse sie von vorne anfangen, nachdem ein kleines Mädchen die Kartoffelschalen mit einem Besen beiseite schrubbte. Nur ganz leise unterhielten sich die Leute, versuchten meist über belanglose Dinge zu reden, um den Zorn der Piraten nicht auf sich zu ziehen. Gegenüber von Mavi saß eine alte schwerhörige Dame und der Junge, den sie eben weggeschleift hatten, war zu nervös zum Sprechen gewesen. Die Stille und die Monotonie machten sie müde und ließen ihre Lider schwer werden. Als endlich alles für das Essen geschält, geschnitten und vorbereitet war, durften die Gefangenen sich bewegen. Mühsam setzte sich Mavi auf und räkelte sich. Die klebrigen Finger wischte sie notdürftig an ihrer ohnehin verdreckten dunklen Hose ab. Dann half sie der alten Dame, die offenbar ohne Gesellschaft reiste, auf die Beine und klopfte ihr ein paar Mal auf den Rücken.
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Der Horizont hinter den Wellen
FantasíaAusgerechnet das Passagierschiff, auf dem die Schmuckmacherin Mavi mitfährt, wird von Piraten überfallen. Mavi und die anderen Geiseln müssen hart für den exzentrischen Kapitän Tayon schuften. Beim Austausch der Geiseln gegen Gold und Vorräte vor de...