1 - Das Märchen beginnt ...

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Mit leerem Blick streckte er seine Hand nach der Weinflasche aus.
Schon wieder nichts.
All die Mädchen. All die Dörfer, Städte, Länder. Nichts.
Er war überall gewesen. Hatte nach dem süßen Mädchen, mit den langen, hellbraunen Haaren und den rehbraunen Augen gefragt. Hatte sich jedes Landgut, jedes noch so kleine Anwesen angesehen. Nur um sie zu finden. Nur um endlich die grausame Leere in sich zu füllen. Mit ihr. Mit der Liebe zu ihr.
Mit ihrem süßen Lächeln, das ihn in seinen Träumen verfolgte.
Er wunderte sich, ob diese Träume - Seelenträume -, die dazu dienten die für dich bestimmte Gefährtin zu finden, ein Fluch oder ein Segen waren. Denn jedes Mal, wenn er erwachte, wurde ihm die Leere in seinem Herzen nur noch schmerzlicher bewusst.
Und nach jedem Tag der erfolglosen Suche stieg nicht nur die Frustration, sondern auch seine Wut. Das Verlangen alles in Schutt und Asche zu legen. Bis sie schließlich am Horizont auftauchte und er endlich mit ihr zusammen sein konnte.
Es war immerhin ihre Bestimmung. Vom Schicksalsband auserkoren gemeinsam ihr Leben zu verbringen. Für immer und ewig. Und nicht einmal der Tod würde sie scheiden, denn nicht ohne Grund nannte man die Träume Seelenträume. Es hieß die Seelen zweier Menschen, die vom Schicksalsband unwiderrufbar miteinander verbunden waren, riefen einander. Sie zeigten ihnen ihren bestimmten Partner und Teile seiner aktuellen Umgebung, damit man einander fand. Doch so einfach war es nicht. Zumindest nicht bei ihm.
Eigentlich hatte er erwartet, dass sobald er achtzehn Jahre alt war, er allerhöchstens einen Mondzyklus lang unterwegs war um sein Mädchen zu suchen, zu finden und anschließend ins Schloss zu bringen, wo sie glücklich bis an ihr Lebensende zusammenleben würden.
Großmutter hatte ihm als kleinen Jungen eindeutig zu viele Märchen vorgelesen.
Erneut brach die Verzweiflung über ihn herein und er ließ seinen Frust mit einem Schrei heraus.
»WO IST SIE?!« Mit einem Klirren zerbarst die halbleere Weinflasche an der Wand.
Augenblicklich stürmten zwei bewaffnete Männer das Zimmer und suchten, ihre Schwerter bereits erhoben, nach einer Bedrohung. Stattdessen erblickten sie bloß einen heftig keuchenden Prinzen. Die breiten Schultern, die er ein wenig nach vorne gebeugt hatte, die geballten Fäuste und der wilde Blick in seinen Augen, ließen ihn wie einen zornigen Stier aussehen, der zum Kampf ansetzte.
Unwohl sahen die beiden Männer sich gegenseitig an. Keiner wollte den Stier zum Explodieren bringen.
Schließlich kam ein grauhaariger Engel zur Tür herein und erlöste die Männer. Als sie das Zimmer verließen, ließ er sich wieder auf seinen Stuhl fallen und vergrub seine Hände in seinem rabenschwarzen Haar.
Henrik betrachtete seinen Schützling. Er hatte stets Probleme gehabt, seine Wut in den Griff zu bekommen. Und nun nagte an ihm die Ungewissheit, ob er jemals seine Seelengefährtin finden würde. Er hatte bereits befürchtet, dass Nicolas Jähzorn ihnen auf ihrer Suche Probleme bereiten würde.
Doch würde er nicht zulassen, dass es ihn zerstörte.
»Nicolas«, sprach er ihn an. Keine Regung. »Nicolas.«
Schwer seufzend ließ der Grauhaarige sich ebenfalls auf dem kleinen Tisch nieder.
»Dir ist bewusst, dass du mit Schreien und Schmollen nirgendwo hinkommst. Vor allem nicht zu ihr.«
»Ich hätte sie schon längst finden sollen.« Seine Stimme leise und rau.
»Ich weiß, Geduld war noch nie eine deiner Stärken, doch lass dir gesagt sein, mein Sohn: Mit ihr wirst du mehr Geduld haben müssen als in deinem gesamten bisherigen Leben. Sie wird sich nicht in deine Arme werfen, sobald sie dich sieht.«
»Das ist mir bewusst«, knurrte er.
Nur zu gut konnte er sich an die vielen Träume erinnern, in denen seine Angetraute vor ihm davonlief. Er wusste nicht, warum, ob er möglicherweise etwas tun würde, dass sie verschrecken würde. Er wusste es schlichtweg nicht.
Und diese Ungewissheit folterte ihn mehr als die Angst sie niemals zu finden.
»Wieso bist du hier, Henrik?«, senkte der Schwarzhaarige seine Hände und blickte dem Älteren geradewegs in die Augen.
Die blutunterlaufenden Augen seines Schützlings bereiteten ihm Sorge, doch er war klug genug es nicht anzusprechen.
»Die Männer fürchten sich vor dir.«
Nicolas schnaubte bloß.
»Sie wissen nicht, dass du ihnen nichts tun wirst. Mir ist das bewusst, doch ihnen nicht. Sie denken, du könntest ohne Grund auf sie losgehen und wenn ich ehrlich sein muss, dann kann ich dies an manchen Tagen auch nicht ausschließen. Du bist unberechenbar, Nicolas. Und ich glaube, dir fällt es oftmals ebenfalls schwer dich zurückzuhalten.«
»Ich habe mich unter Kontrolle«, zischte er durch zusammengebissenen Zähnen.
Darauf erwiderte der andere nichts.
»Ich vertraue darauf, dass du dich zu benehmen weißt, wenn die Zeit gekommen ist.«
Mit diesen Worten stand der Grauhaarige auf, klopfte seinem Schützling noch einmal aufmunternd auf die Schulter und verschwand.
Zurück blieb ein erwachsener Mann, der sich so hilflos fühlte wie ein kleiner Junge.

Die stumme Prinzessin (2nd Draft)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt