Anziehungskraft

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„Hey, das klingt jetzt vielleicht bescheuert, aber ich überlege schon den ganzen Abend woher wir uns kennen!" hauchte der Fremde mir zu. Seine dunklen Augen musterten mich voller Interesse. Ich befand mich in einem Club, es war bereits spät und eigentlich wollten Mira und ich gerade gehen. Als wir uns unlängst einen Weg durch die Menschenmenge in Richtung Ausgang gebahnt hatten, hatte er mich sanft am Arm festgehalten und war mit dem Mund nahe an mein Ohr gekommen, um mir trotz der Lautstärke etwas zu mitzuteilen. Sein Atem kitzelte in meiner Ohrmuschel und verschaffte mir eine Gänsehaut.

Dass mich der dunkelhaarige Boy die ganze Zeit angestarrt hatte, war mir nicht entgangen, und im ersten Moment, war er mir auch bekannt vorgekommen, doch dann hatte ich mich der Musik und dem Tanzen hingegeben und nicht weiter darüber nachgedacht. Der junge Mann hatte sich anscheinend über den Abend Mut angetrunken, mir seine Erkenntnis jetzt mitzuteilen. Ich schluckte.

„Ja, du kamst mir auch bekannt vor, als wir vorhin reingekommen sind. Kennen wir uns denn?", fragte ich unsicher, ebenfalls nahe an seinem Ohr, damit er mich verstehen konnte. Ich dachte eigentlich er habe nur zufällig Ähnlichkeit mit Jemandem den ich kannte, aber wenn es ihm auch so ging, dann steckte vielleicht doch mehr dahinter.

„Auf welcher Schule warst du?", fragte er.

„Ich bin in Segeberg zur Schule gegangen. Ich wohne noch nicht lange in Berlin!" erklärte ich und der Fremde nickte. Mira räusperte sich. Sie wollte gerne gehen.

„Ich bin Mik!", sagte der Fremde und gab erst mir und dann auch Mira seine Hand.

„Dennis", sagte ich nur.

„Dennis..." der Typ sah aus als würde er scharf überlegen. Auch in mir regte sich eine wage Erinnerung. Vor meinem geistigen Auge erschien ein See, eine verregnete Nacht, Hütten am Waldrand. Der Geruch von Kiefernholz und das Gefühl von nackter Haut unter meinen Fingern.

„Warst du vielleicht in diesem Ferienlager? Das muss vor... sechs Jahren gewesen sein! Damals war ich fünfzehn..." fragte ich, nun mit deutlich erhöhtem Puls. Mik... ja, ich glaubte das war sein Name gewesen...

„Das Waldbad. Ja, das ist es!" Er strahlte mich an. Sein Blick bohrte sich in meinen, und ich spürte förmlich wie auch in seinem Kopf die Erinnerung zum Leben erwachte.

„Ist ja alles schön und gut Jungs, aber ich will wirklich nachhause!", sagte Mira, die nur Bruchteile unseres Gesprächs aufgeschnappt haben konnte.

„Ja, okay, warte...", sagte ich zu ihr. Ich ließ mir Miks Handy geben, und tippte schnell meine Nummer ein.

„Schreib mir morgen mal. Vielleicht können wir dann mal über alte Zeit quatschen!", sagte ich und ließ mich von Mira aus dem Club ziehen. Ich sah ihm nach, das Bild von ihm, wie er da im Club stand, mit dem hellen Shirt, der Cap und der schwarzen Hose, vermischte sich mit dem des Jungen am See. Dem Jungen mit dem dunklen Sweatshirt und den halblangen Haaren, die nass vom Regen waren, vor so vielen Jahren...

Der Regen tropfte mir ins Gesicht. Ich fröstelte und zog meine Jacke, enger um meinen Hals. Ich hätte längst zurück bei meiner Gruppe sein sollen. Den ganzen Abend hatte ich hier bei der anderen Jugendgruppe verbracht, hatte mit den 18jährigen Jungs Bier getrunken und mich dabei super cool gefühlt, auch wenn der bittere Geschmack des Getränkes mich bei jedem Schluck fast würgen ließ.

Nun hatten sich die anderen Jungen in ihre Herberge verzogen, doch ich hatte noch einen relativ weiten Weg vor mir. Ich musste zurück zu den Holzhütten, in denen unsere Gruppe untergebracht war. Mein Weg führte mich einige hundert Meter durch den Wald. In völliger Dunkelheit und bei Gewitter und immer stärker werdendem Regen.

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