9.Kapitel

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Gut gelaunt kam ich von der Schule zurück. Ich steckte pfeifend den Schlüssel in die Tür, drehte ihn um und betrat das Haus. „Ich bin zuhauseeee" rief ich während ich meine Jacke und meine Schuhe auszog, erhielt jedoch keine Antwort. Ach man, ich bin doch auch echt dumm.  Meine Tante ist vor einigen Stunden zurück nach Japan geflogen, da sie eine Woche Urlaub bekommen hatte. Sie war die Schwester meiner Mutter und zwar keine Japanerin, ihr Ehemann jedoch schon und sie beherrschte die Sprache perfekt. Vor einigen Jahren bekam sie ein sehr gutes Jobangebot, weswegen sie mit ihrem Mann von Amerika nach Japan zog. Nachdem unsere Eltern letztes Jahr bei einem Autounfall verstorben sind, erklärte sie sich bereit, zu uns zu ziehen und mit uns zu leben solange wir noch minderjährig waren. Jetzt arbeitete sie von zuhause aus und besuchte ihren Mann ein paar Mal im Jahr, je nachdem wie oft und lang sie Urlaub bekam, was heute mal wieder der Fall war. Mein liebes Schwesterherz war wahrscheinlich noch in der Schule, ich hatte heute ausnahmsweise nur 5 Unterrichtsstunden da einer unserer Lehrkräfte krank wurde.

*sensible Menschen bitte den Rest des Kapitels nicht lesen*

Ich ging in Richtung Badezimmer um mir die Hände zu waschen, blieb jedoch kurz davor stehen, weil ich ein leises Schluchzen vernahm. Es kam von ihr, keine Frage. In der Hoffnung dass sie mich noch nicht bemerkt hatte, presste ich mein rechtes Ohr an die Tür. „Wieso muss mein Leben nur so kompliziert sein? Erst verlassen uns Mum und Dad und lassen mich gekränkt und gebrochen zurück... Jetzt auch noch Ace..." Ace? Der erste Freund meiner Schwester mit dem sie monatelang zusammen war und so glücklich zu sein schien? Das kann nicht sein... Sie strahlte doch immer so wenn sie von ihm erzählte. „Ich dachte wirklich er liebt mich, er hat mich aber nur benutzt und wegen ihm habe ich es mir mit Aiden verspielt..." Benutzt?! Hoffentlich war es nicht so schlimm wie ich dachte... Und Aiden? Wer war das denn? „Ich hätte auf ihn hören sollen, stattdessen habe ich mich ihm gegenüber total schlimm verhalten und ihn beleidigt, er wird mir wahrscheinlich nie verzeihen können... Und ich? Ich schäme mich so sehr für mein Verhalten, ich werde ihm nie wieder in die Augen sehen können, er wollte immer nur das Beste für mich und ich war stur und dumm und habe ihn ignoriert..." Ein gequältes Schluchzen entwich ihrer Lunge und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ich kannte so eine Seite von ihr nicht, sie war doch immer so gut gelaunt und offen... Aber ich wusste, dass sie ein sensibler Mensch war und ich wollte wissen was sie belastete, deswegen musste ich jetzt stark bleiben. „Ace hat recht. Ich bin nur ein dummes, naives kleines Mädchen und selbst Schuld an meinem Leid. Jeden belaste ich nur mit meinem ständigen Rumheulen und meiner eigenen Dummheit." Darf ich vorstellen? Meine Schwester. Der selbstkritischste Mensch auf Erden. Ich konnte es nicht fassen. Ace soll so etwas verletzendes zu ihr gesagt haben? Er schien doch immer so aufrichtig und nett gewesen zu sein... Was für ein Bastard. Ich hätte es von Anfang an ahnen sollen. Ich hörte ihr weiterhin geduldig zu, auch wenn der Drang die Tür aufzureißen und sie zu umarmen immer größer wurde. „Ich hatte Kaya versprochen, dass wir das hier zusammen durchstehen..." Oh nein, jetzt redete sie über mich... Worauf wollte sie denn hinaus? Nun war ich ebenfalls kurz vorm Weinen. „Sie sagt doch immer, dass die Zeit alle Wunden heilt. Warum habe ich dann das Gefühl dass die Zeit meine Wunden nur immer wieder und immer schmerzhafter aufreißt? Oder ist das auch meine Schuld? Bin ich es, die sich selbst vom Heilen ihrer Wunden abhält? Bin ich es, die alles was sie macht falsch angeht und deswegen mit jedem Mal immer mehr verletzt wird?" Obwohl ich es versuchte, verstand ich nichts mehr... Sie sprach echt in Rätseln. Und warum machte sie sich solche Vorwürfe? „Ich bin so feige. Ich schaffe es ja nicht einmal, mit meiner eigenen Schwester, der wichtigsten Person in meinem Leben, über meine Sorgen zu reden. Wie soll ich diesen Kampf mit meinen inneren Dämonen dann bestreiten, geschweige denn gewinnen? Ich schätze ich sollte einfach das Handtuch werfen und aufgeben, so wie ich es immer tue..." Auf einmal herrschte Stille. So viele Fragen bildeten sich in meinem Kopf. Was meinte sie mit alldem? Welche Dämonen? Welcher Kampf? Wieso wollte sie aufgeben? Die Stille wurde von einem schmerzerfüllten Stöhnen erfüllt. Was ging denn jetzt ab?! Das war's. Meine Geduld war am Ende und ich hatte genug gehört. Ich hielt es nicht länger aus und stieß die Tür auf, nur um meine Schwester mit einer Rasierklinge in der rechten Hand und einem blutverschmierten linken Handgelenk zu sehen. Sie blickte mich mit einem geschockten Gesichtsausdruck an und wollte gerade etwas sagen doch ich gab ihr keine Möglichkeit dazu, denn ich kam direkt auf sie zugerannt und nahm sie in den Arm. „Kaya, ich..." „Pschhhh... Bitte beruhig dich erstmal, dann können wir reden." unterbrach ich sie leise, mittlerweile war auch mein Gesicht tränenüberströmt. Sie fing an, in meinen Armen zu zittern und ihr verzweifeltes Schluchzen war nun schlimmer als zuvor. Ich war am Boden zerstört, meine Schwester so leiden zu sehen schmerzte so unglaublich sehr. Sie war mein ein und alles, sie war alles was mir auf dieser Welt noch geblieben war. Nach ungefähr 2 Minuten schien sie sich etwas beruhigt zu haben und mir fiel ein, dass sie noch eine Rasierklinge in der Hand hatte, die ich ihr direkt wegnahm. Danach nahm ich ein paar Taschentücher und fing an ihre Wunde zu säubern. Sie hatte sich echt tief ins Fleisch geschnitten und egal wie viel ich tupfte, es kam immer mehr Blut aus dem Schnitt. Irgendwann griff ich zum Verbandskasten, nahm eine Mullbinde und machte ihr einen Druckverband. Sie weigerte sich mir ihren kompletten Arm zu zeigen, doch ehe sie etwas sagen konnte zog ich ihren Ärmel hoch und das was ich da sah verschlug mir den Atem.
Ihr kompletter Unterarm war mit Narben und Schnitten übersät.
„Warum hast du das getan?" flüsterte ich, da sich ein Kloß in meinem Hals gebildet hatte und ich nicht mehr normal reden konnte. Sie drehte aus Scham ihr Gesicht von mir weg und antwortete nicht. Ich schluckte, um wieder sprechen zu können. „Hey, das sollte kein Vorwurf sein... Tut mir leid... Ich möchte nur nicht, dass du leidest, verstehst du?" sagte ich mit einem sanften Unterton, kniete mich vor ihr hin und nahm ihr Gesicht in beide Hände, sodass sie mich anschauen musste. Ihre Augen waren rot und angeschwollen und sie hatte sie geschlossen. Die Tränen strömten immer noch ihr Gesicht herunter. „Es tut mir so leid..." flüsterte sie nach einer gefühlten Ewigkeit. „Ich wollte nicht dass du mich so siehst... ich wollte dich nicht belasten und jetzt musst du dir auch noch Sorgen um mich machen obwohl du sowieso schon genug um die Ohren hast..." fuhr sie fort. „Aber nein, du darfst nicht so denken. Du bist das einzig Wichtige für mich auf dieser Welt und es tut mir weh, dich so zu sehen." gab ich ehrlich zu. „Ich habe dir schon oft genug gesagt dass wir das schaffen, zusammen. Hast du das verstanden? Wir werden das durchstehen, koste es, was es wolle." Sie nickte langsam, die Augen immer noch geschlossen. „Und jetzt erzählst du mir in Ruhe, was mit Ace passiert ist." Ich half ihr aufzustehen und brachte sie in ihr Zimmer, wo sie sich kraftlos auf ihr Bett fallen ließ. Bevor ich sie zu diesem Arschloch befragte, wollte ich noch eine Sache sicherstellen.
„Ich will dass du dir nie wieder so etwas antust." sagte ich ernst. Wieder nickte sie, schaute mir jedoch nicht in die Augen. „Versprochen?" sie schien kurz zu zögern und über das, was ich gesagt hatte, nachzudenken. Schließlich sagte sie: „Kein Cutting mehr. Versprochen."

Please (don't) Save me.Where stories live. Discover now