2 - ... mit Dunkelheit und Tränen

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Summend setzte das Mädchen ihren Weg fort. Die Nacht brach herein und die Schatten übernahmen langsam den Wald. Wie immer hatte sie die Zeit vergessen und kam nun zu spät zum Abendbrot. Mutter würde ihr erneut eine Standpauke halten, schließlich war es nicht das erste Mal, dass das passierte.
Allerdings würde sie nicht mit leeren Händen nach Hause kommen, denn der Korb, den sie mitgenommen hatte, war randvoll mit essbaren Pilzen und sogar einige Beeren, denen sie nicht widerstehen konnte, hatte sie hineingelegt.
Wenn sie Glück hatte, würden diese ihre sorgenvolle Mutter besänftigen.
Gänsehaut breitete sich über ihre Arme aus, als ein kühler Luftzug vorbei wehte und die Blätter zum Rascheln brachte. Leicht zitternd rieb sie sich über die entblößten Arme.
Obwohl der Herbst bereits angebrochen war und die Tage deutlich kälter geworden waren, konnte sie an manchen wärmeren Tagen nicht widerstehen eines ihrer langen Sommerkleider zu tragen. Mutter rügte sie deswegen öfter, doch sie schaffte es stets damit davonzukommen.
Nun allerdings ärgerte sie sich selbst ein wenig, denn das luftige Kleid reichte zwar bis zum Boden, aber ihre Schultern und Arme waren komplett entblößt und sie hatte nicht einmal daran gedacht einen Schal mitzunehmen.
Vor Kälte zitternd ging sie weiter um so schnell wie möglich in ihr warmes Heim zu gelangen. Die Bewohner des Waldes hatten sich ebenfalls zur Ruhe begeben. Denn im Gegensatz zu heute Nachmittag war der Wald unheimlich still. Bis auf das leise Rascheln der Blätter im Wind und der ab und zu durch den Wald hallende Ruf eines Uhus, störte kein Geräusch die einkehrende Stille.
Sie fühlte sich beinahe wie ein Eindringling durch das in ihren Ohren laute Auftreten ihrer Sohlen auf dem von Ästen und Blättern übersäten Boden.
Eilig setzte sie einen Fuß vor den anderen um der düsteren Stille zu entkommen. Aus irgendeinen Grund fühlte sie sich an diesem Tag nicht so wohl im Wald wie sonst. Möglicherweise lag es am Verschwinden der Sonne und des immer kälter werdenden Windes, jedoch verspürte sie in diesem Moment nur noch den Wunsch schnellstmöglich nach Hause zu kommen.
Und in diesem Moment verließ sie auch schon den düsteren Wald und trat auf die Wiese, auf der ihr Haus erbaut worden war.
Sie lief allerdings nicht wie vorgenommen sofort nach Hause, sondern blieb wie angewurzelt stehen.
Das kleine Landgut war umzingelt von bewaffneten Männern. Sie waren überall. Mit Dutzenden Pferden.
Furcht ergriff ihr Herz und hielt es in einem festen Klammergriff gefangen. Drückte immer und immer fester zu bis sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen.
Ihre Mutter!, dachte sie plötzlich. Hatten diese Männer ihr etwas angetan? Sie würde es sich niemals verzeihen können, wenn ihr irgendetwas geschah und sie nicht da war um ihr zu helfen.
Unwissend, was sie nun tun sollte, trat sie zögerlich einen Schritt näher. Sie musste erfahren, ob es ihrer Mutter gut ging. Eher würde sie keine Ruhe geben.
Unsicheren Schrittes näherte sie sich nun den fremden Männern. Sie standen bloß herum und führten untereinander Gespräche. Sie kam nicht umhin die entspannte Atmosphäre, die diese bewaffneten Fremden umgab, zu bemerken. Sie würden doch wachsam und angespannt sein, wenn sie etwas Schlimmes taten. Oder etwa nicht?
Waren sie sich dermaßen sicher, dass sie niemand in ihrem Vorhaben - was auch immer dieses sein mochte - aufhalten würde, dass sie sich nicht einmal die Mühe machten die Umgebung im Auge zu behalten?
Wer waren diese Männer bloß? Und was taten sie an ihrem Hof, der weit ab vom Dorf und geschützt auf dieser von Wald und Hügeln umgebenen Wiese lag?
Unzählige Fragen schwirrten in ihrem Kopf und sie biss sich unbewusst auf die Lippe. Diese Ungewissheit gefiel ihr nicht. Ganz und gar nicht. Es ließ sie hilflos und klein fühlen. Und sie wollte nicht mehr das hilflose, kleine Mädchen sein, das sie früher einmal war.
Seufzend musste sie sich jedoch eingestehen, dass dieses Mädchen immer noch in ihr schlummerte. So sehr sie auch versuchte diese Gefühle von sich wegzuschieben.
Versunken in ihren Gedanken achtete sie kaum auf ihren Weg und befand sich plötzlich mitten im Tumult. Die Männer, die vor einigen Sekunden noch erheitert vor sich hin geplaudert hatten, waren unerwartet still geworden und betrachteten sie als hätten sie noch nie in ihrem Leben ein weibliches Wesen gesehen.
Unwillkürlich zog sie unter ihren bohrenden Blicken den Kopf ein. Was tat sie bloß? Sie kannte diese Männer nicht. Wusste nicht, was sie mit ihrer Mutter gemacht hatten und nun spazierte sie einfach in ihre Mitte?
Sie fühlte sich plötzlich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Nur hatte sie keine scharfen Zähne oder Klauen, mit denen sie sich gegebenenfalls verteidigen konnte.
Schwer schluckend trat sie einen Schritt zurück. Dann noch einen.
Sie wollte sich schon umdrehen und flüchten, als auf einmal die Tür zu ihrem Haus aufging und zwei Männer hinaustraten. Der eine schien auf den anderen einzureden, als würde er ihm etwas Wichtiges verständlich machen wollen, doch der Schwarzhaarige reagierte kaum. Stattdessen wanderte sein Blick zu den Bäumen, in denen sie sich vor Kurzem noch hatte verstecken wollen.
Wie angewurzelt blieb sie stehen und beobachtete gespannt wie sein Blick den Waldrand nach etwas absuchte. Letztlich fand er das Gesuchte jedoch nicht und seine Schultern sackten ein wenig nach unten. Der Braunhaarige klopfte ihm auf die Schulter und sprach ihm wahrscheinlich Mut zu, doch der andere schein erneut nicht zu reagieren und ließ seinen Kopf weiterhin hängen.
Derweil hatte sie die Männer um sich herum bereits wieder komplett vergessen und zuckte dementsprechend erschrocken zusammen, als einer sich räusperte.
Die zwei dazu gestoßenen Männer blickte auf und ihre Augen fanden sogleich die des Schwarzhaarigen. Es war als hätte ihr jemand die Luft aus dem Körper gepresst, so intensiv traf sie der Blick des Fremden.
Sie konnte seine Augen aufgrund der Ferne nicht erkennen, doch sie sah wie plötzlich wieder Leben in den zuvor noch niedergeschlagenen Mann kam.
Vorsichtig wagte er sich näher an sie heran. Ein Schritt, dann ein zweiter.
Sie stand bloß wie erstarrt da und wusste nicht, was in ihr vorging. Ihre Furcht wurde von einem anderen Gefühl verdrängt. Ein Gefühl, dass sie nicht beschreiben konnte.
Der Fremde trat noch einen Schritt näher und verringerte ihren Abstand erneut. Aus irgendeinen, ihr unerfindlichen, Grund zögerte er und machte bedachte Schritte, anstatt wie ein Berserker auf sie zu zu stürmen. Sein intensiver Blick hielt immer noch ihren gefangen, ohne, dass sie dies bewusst wahrgenommen hatte. Doch nun riss sie sich von seinem Anblick los und setzte einen Fuß auf das weiche Gras hinter ihr.
Ihm entging dies nicht. Augenblicklich blieb er stehen.
Mit vor Schreck geweiteten Augen richtete er zum ersten Mal das Wort an sie. »Ich werde dir nichts tun. Versprochen. Ich möchte nur mit dir sprechen.«
Weder sein Versprechen noch seine angenehm tiefe Stimme milderte die Panik in ihr. Stattdessen machte sie noch einen Schritt nach hinten.
Der Wald, der ihr zuvor dunkel und unheimlich vorgekommen war, schien ihr nun einladend und sicher.
Sie wagte einen weiteren Schritt.
»Bitte«, flehte der Unbekannte unerwartet und streckte trotz der offensichtlichen Weite, die Hand nach ihr aus.
Obwohl sie noch zu weit von ihm entfernt war, konnte sie seinen bittenden Blick wahrnehmen. Er brannte auf ihrer Haut.
Unwohl schluckte sie den Kloß in ihrem Hals herunter. Wieso lag diesem Fremden so viel an ihr? Er kannte sie nicht. Er war in ihr Heim eingedrungen und erwartete nun offenbar, dass sie dies mir nichts dir nichts akzeptierte und sich auf ein Gespräch mit ihm einließ.
Doch wie konnte sie? Sie wusste nicht einmal mit Sicherheit, dass es ihrer Mutter gut ging.
Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihrer Brust breit und schnürte ihr die Kehle zu. Wieso fühlte sie sich verantwortlich für sein Elend?
Tief ein und aus atmend versuchte sie sich zu beruhigen. Niemand war ihr gegenüber bisher handgreiflich geworden oder hatte sie bedroht - auch wenn das Eindringen in ihr Heim für sie mehr als bedrohlich wirkte -, sie konnte ihm wenigstens den Gefallen erweisen zuzuhören.
Doch in dem Moment, in dem sie diesen Entschluss in die Tat umsetzen wollte, erscholl eine Stimme: »Sollen wir sie für Euch gefangen nehmen, Eure Hoheit?«
Kaum hatte sie diese Worte verarbeitet, drehte sie sich mit schreckensgeweiteten Augen herum und stürzte, ihren Korb fallen lassend, über die Wiese zum Waldrand. In ihrer Eile bemerkte sie jedoch nicht wie sich einer der Männer ihr in den Weg stellte und sie landete umgehend in seinen kräftigen Armen.
Wild zappelnd versuchte sie sich zu befreien. Panik und Angst loderten in ihren Augen auf, als sie dies nicht schaffte.
»Lass sie sofort los!«, ertönte daraufhin eine erzürnte Stimme und der Mann lockerte seinen Griff um ihre Gestalt, sodass sie sich von ihm lösen konnte.
Ohne nur einen Gedanken an diesen eigenartigen Befehl zu verschwenden, rannte sie in den Wald. Dunkelheit umfing sie, denn durch die dichten Baumkronen drang kein Mondschein. Sie hatte Mühe damit nicht hinzufallen. Stets verfing sie sich an dem Gestrüpp oder blieb mit dem Fuß an einer aus dem Boden empor ragenden Wurzel hängen.
Doch wurde sie trotz allem nicht langsamer.
Die Panik trieb sie an, denn sie hatte die Worte nicht vergessen. Der Mann hatte nicht nur gedroht damit sie festzunehmen, sondern hatte eine bestimmte Person auch mit einem Titel angesprochen, den nur einer in diesem Königreich besaß.
Eure Hoheit.
Die Erkenntnis traf sie tief. Einer der Männer, die aus ihrem Haus getreten waren, musste der Prinz sein. Was wenn sie wussten, was sie getan hatte und sie sie nun dafür bestrafen wollten?
Nein, das würde sie nicht ertragen. Ihre eigenen Schuldgefühle und Alpträume quälten sie schon zu Genüge.
Doch war es nicht vielleicht sogar besser, wenn sie sich stellte? Sie würden dem allen endlich ein Ende setzen. Womöglich war es sogar am Besten, wenn sie einfach stehen blieb und ihrem Schicksal in die Augen sah.
Keuchend kam sie zum Stehen. Ihre Beine fühlten sich schwach an. Ihre Lunge brannte und Tränen der Verzweiflung sammelten sich in ihren Augen.
Haltlos lehnte sie sich an eine große Eiche, die unmittelbar vor ihr hoch in den Himmel ragte.
Oh wie sie sich im Moment wünschte ein Baum sein zu können. Sich tagein tagaus im Wind zu wiegen und stille Zeugen der Geschehnisse um sie herum zu sein.
Diese Eiche war an diesem Tag eine stille Zeugin des ersten Treffens zweier Seelengefährten geworden.
Allerdings war dies nur dem jungen Prinzen, der nun mit wild abstehenden Haaren einige Meter vor ihr zum Stehen kam, bewusst.
Unbewusst krallte das junge Mädchen sich an den Stamm des Baumes fest. Ihr Kopf war gesenkt, sodass die langen, hellbraunen Haare wie ein Vorhang ihr Gesicht verdeckten. Beim Versuch sich klein zu machen, zog sie ihre schmalen Schultern dicht an sich heran und hielt sich - bis auf ihren Kopf - flach an den Baum gepresst.
Ihr Herz hämmerte lautstark in ihrer Brust. Das Blut rauschte ihr durch die plötzliche Anstrengung in den Ohren, wodurch sie die Person, die sie in diesen Zustand versetzt hatte, nicht einmal näher treten hören konnte.
»Hallo.« Erneut diese tiefe Stimme.
Sie reagierte nicht.
»Mein Name ist Nicolas.«
Abermals bekam er keine Antwort. Sie starrte bloß weiterhin auf den von Wurzeln durchzogenen Boden.
Nichts als ihr schnelles Atmen verriet sie.
Stille legte sich über die beiden, als Nicolas beschloss, dass seine Annäherungsversuche nichts brachten. Jedoch wurde diese sogleich durch einen spitzen Schrei unterbrochen. Augenblicklich ruckte ihr Kopf hoch, als sie eine plötzliche Berührung an ihrer Wange spürte.
Allerdings war der Schwarzhaarige bereits einen Schritt zurückgezuckt. Der laute Schrei hatte ihn unerwartet getroffen.
Mit erhobenen Händen starrte er ihr in die großen, rehbraunen Augen.
»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich leise, »Ich hatte nicht die Absicht dich zu erschrecken. Ich möchte nur mit dir sprechen.«
Davon war sie jedoch nicht überzeugt. Ängstlich lugte sie unter ihren langen Wimpern hervor, nachdem sie nach ihrem anfänglichen Schock ihren Blick abermals gesenkt hatte.
Nun allerdings erkannte sie den Unbekannten. Seine stechend blauen Augen, die im Moment eine Sanftheit und Wärme ausstrahlten, dass sie davon beinahe errötete. Der markante Kiefer, sowie die harten Züge seines Gesichtes, die ihn bedrohlicher wirken ließen. Auch die feine Narbe, die sich von dem rechten Wangenknochen bis unter sein Ohr zog, blieb ihren forschenden Augen nicht verborgen.
Sein Anblick übte gleichzeitig eine gewisse Faszination auf sie aus und ängstigte sie. Sie war sich jedoch nicht darüber im Klaren, was die Überhand hatte. Furcht oder Faszination.
»Ist alles in Ordnung?«, wollte er auf einmal besorgt wissen. »Du bist so blass. Geht es dir nicht gut?«
Er wollte erneut einen Schritt auf sie zutreten um sie besser in Augenschein zu nehmen, doch ihr unbewusstes Wimmern, warnte ihn davor, noch näher zu kommen.
»Ist schon gut. Ich tu dir nichts. Bitte, vertrau mir. Ich würde lieber mich selbst verletzten, als dir Schmerzen zu zu fügen. Und ich werde es auch niemals zulassen, dass dies jemand anderes tut.«
Die Ehrlichkeit in seinen Worten bewegte sie. Er wollte ihr offenbar wirklich nichts antun. Andererseits verstand sie nicht, warum ihm dies so dermaßen wichtig war. Schließlich war sie bloß eine einfache Bauerstochter. Und er hatte doch vor sie wegen dem was sie getan hatte zu bestrafen. Wieso versprach er ihr dann, dass er ihr nichts tun würde? Es ergab keinen Sinn.
Doch seine folgenden Worte beantworteten ihr Fragen mit einem Schlag.
»Schließlich muss ich das Wertvollste in meinem Leben beschützen. Meine Gefährtin.«

***
Danke für eure tolle Unterstützung!
Ich lese jeden Kommentar und schätze eure Meinungen und Votes. Danke, dass ihr immer noch zu mir hält, trotz allem, was ihr mit mir durchmachen musstet.
Danke, danke, danke!
Ich weiß nicht, wie regelmäßig die Kapitel erscheinen werden, weil ich noch nicht viel geschrieben habe, aber ich versuche euch nicht zu lange warten zu lassen.
Danke nochmal ❤️
Eure
Starlight-belle

Die stumme Prinzessin (2nd Draft)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt