Auf der Flucht

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geschrieben 2015

Das Laub knistert unter ihren Füßen, die sie durch die Dunkelheit immer weiter in den Wald tragen. „Warum?", murmelt sie immer und immer wieder. Die Frage nach dem „Warum?". Die Frage, die vieleMenschen heutzutage quält und Nächtelang wach hält. Warum sie? Warum er? Warum passiert das alles? Warum kann es nicht anders sein? So viele Fragen. So viele Erinnerungen und Gedanken, die in ihrem Kopf herumschwirren, wie Blätter im Wind. Sie läuft immer weiter. Erinnerungen und Gedanken über die verschiedensten Themen, die immer mehr einer grausamen und nie endenden Realität zu gleichen scheinen.

Sie kommt auf einer Lichtung an, sinkt in das weiche, gründe Gras, um eine kleine Pause zu machen und sich auszuruhen. Als sie ihre Augenschließt und die frische, angenehm kühle Luft einatmet, scheint es für einen kleinen Moment vergessen, die Probleme, das Chaos in ihrem Kopf. Ein Gefühl von Freiheit und Geborgenheit breitet sich in jeder Zelle ihres Körpers aus. Entspannung macht sich breit. Das hat sie schon lange nicht mehr gefühlt. Ein Lächeln findet den Weg auf ihre Lippen. Es fühlt sich an als wäre er wieder bei ihr, würde sie halten und ihr Kraft geben mit all dem, was geschehen ist umzugehen. Als würden seine Augen sie wieder mit diesem beruhigenden Blick ansehen. Als würde sein Lächeln wieder so ansteckend sein. Als würden sie beide wieder zusammen im Garten sitzen und eine gewohnte Partie Schach spielen, wie sie es immer gerne getan haben, aber nein. Dabei muss es sich um eine Illusion handeln. Das kann nicht real sein und gerade passieren. Das Bild vor ihrem inneren Auge kann nicht der Realität entsprechen, denn er, dieser Mann mit dem so beruhigenden Lächeln, der eine der wichtigsten Personen in ihrem Leben war, ist nicht hier, kann nicht hier sein. Er ist gegangen. Zu früh gegangen um jetzt noch hier zu sein.

Sie öffnet wieder ihre Augen. Die Dunkelheit, vor der sie versucht zu fliehen, kehrt zu ihr zurück, holt sich ihren zarten Geist wieder. Dieser Schatten ist angsteinflößender und dominanter als alles, was sie je gesehen hat. Sie springt auf, läuft davon. Sie will dem düsteren Bann entfliehen, doch mit dieser bedrückenden Finsternis kommen auch die Gedanken wieder: Schuld. Schuld an dem Vergangenem und Geschehenem. Sie hätte da sein und bleiben müssen, bei ihm, hätte nicht gehen dürfen. Er war allein in der wahrscheinlich schwersten Zeit seines Lebens, wegen ihr. Ihr Blick sucht beim Rennen nach einem Anhaltspunkt, um dieses Schuldgefühl irgendwie verdrängen zu können wie sonst auch. Sie kann sich das nicht verzeihen, weil es keine zweite Chance gibt, um es wieder gut zu machen, weil sie sich nicht entschuldigen kann, sich erklären kann. Sie ist Schuld und hat versagt. Der gesuchte Halt bleibt aus, doch der Gedanke soll endlich aus ihrem Kopf verschwinden.

Sie hält inne. Halt! Dort ist nicht Schwärze allein. Die Dunkelheit sieht sie mit leuchtenden feuerroten Augen an, die einen erstarren lassen und dazu führen, dass sich einem die Nackenhaare aufstellen. Ihre Füße ,die sie eben noch durch den Wald getragen haben, scheinen festgewachsen und ihr Körper erstarrt. Die Augen der Finsternis kommen näher, wollen sie in das Mysterium ihrer Dunkelheit treiben, wollen, dass sie sich endlich verliert, treiben ihr weitere Gedanken in den Kopf: Leid und Verlust. Überall auf der großen weiten Welt, in dieser erschreckend kalten und egoistischen Gesellschaft, in der nur noch der eigene Erfolg und das eigene Wohlbefinden zählt, geht Leid einher mit Verlust. Sie kann all diese Gedanken nicht verwerfen, sieht wie die ihr so bekannte Frau, die so oft an ihrer Seite war, leidet. Diese Frau, die einst so glücklich und fröhlich war, leidet so sehr, dass sie anfängt sich selber aufzugeben und loszulassen. Alle verlangen, dass diese einst so tapfere Frau, weiterkämpft, doch wie soll sie kämpfen, wenn alle anderen diesen Kampf schon für sie aufgegeben haben und nur noch ängstlich dem Tod entgegensehen. Sie leidet und es scheint als würde ihr Leben nur noch daraus bestehen auf das Ende dieses Alptraums zu warten, auch wenn jeder weiß, dass es kein Traum ist. Die Dunkelheit hat auch sie erreicht und wird sie mit sich reißen, genauso wie die Liebe und das Glück in ihrem viel zu kurzem Leben.

Die Flucht vor der Finsternis scheint gescheitert, denn es ist nun schon sehr nahe. Was wird die Dunkelheit tun? „Wird es wehtun?", fragt das weibliche Wesen, welches eben noch um ihr Leben rannte, in die mysteriöse Nacht hinein. „Wird es mir wehtun oder will es mir nur helfen all dem zu entfliehen?", murmelt sie, rennt dann aber weiter, immer schneller, wobei nun doch Tränen in ihre Augen steigen. Was passiert hier an diesem naturnahem Ort? Weitere Gedanken und Bilder erscheinen in ihrem Kopf. Gedanken, die nun den empfindlichsten Erinnerungen entsprechen. Hass. Verlogenheit. Wut. „Du! Du bist das Monster, nicht er oder ich, denn du bist die, die gegangen ist und das genau dann, als du bleiben solltest. Genau dann, als ich dich verdammt nochmal am meisten brauchte, weil er einen Teil von mir zerbrochen hat. Du hast mich stehen gelassen nur um dazuzugehören, hast mich dafür belogen und verraten, meine privaten, persönlichen Gedanken weiter erzählt nur um cool zu sein? Du hast nur mit mir gespielt, wie mit einer Schachfigur...", sagt sie vor sich hin, wobei ihre Hände sich zu Fäusten ballen und die Gedanken weiter in ihrem Kopf spielen. Am liebsten will sie sie umbringen. „Du bist ein Niemand, ein nutzloser Mitläufer und ein verlogener Teil unserer zugrunde gehenden Gesellschaft. Was hast du mit deiner Falschheit erreicht? Hat sie, die Dunkelheit, dir Ruhm dafür versprochen oder Macht? Nein, so grausam ist sie nicht. Da bist du alleine drauf gekommen, weil ich nicht gut genug für dich war und das obwohl ich immer für dich war, mir deine albernen und kindischen Probleme angehört habe, um dann so betrogen und verletzt zu werden. Falsche verlogene Schlange!", hallt es in die Nacht hinaus.

Erneut sinkt sie ins Gras, greift das Grün mit den Händen, reißt daran und schreit den Frust heraus. Wie sehr sehnt sie sich nach dem Gefühl nicht alleine zu sein? Wie sehr wünscht sie sich ein Leben in einer fernen Welt, wo jeder eine Bestimmung hat, wo die Schlechten und Bösen zuerst sterben. Das wird nie wahr werden, immer ein Wunsch bleiben, der nie vergeht. Die Guten sterben nun mal zuerst. Wenn jemand auf eine Wiese geht zum Blumen pflücken, pflückt derjenige ja auch als erstes die schönsten Blumen und nicht die, die nicht richtig blühen. Die Hoffnung dieser Welt wird immer mehr zugrunde gehen. Ehrliche Worte und ehrliche Taten verlieren an Bedeutung, scheinen nichts mehr wert zu sein, so dass man lieber schweigen sollte. Das Einzige, was in diesem Krieg noch zählt und wirklich Bedeutung hat, ist das Überleben, oder? Diese Frage schwebt in ihrem Kopf. Wieso überleben wollen in dieser grausamen Welt, in der die Menschen sich selber in den Tod treiben, wenn vielleicht das, was diese mysteriöse Dunkelheit bereit hält, besser und schöner ist?„Kann es überhaupt noch schlimmer werden?", fragte sie sich während sie spürt, wie die Finsternis näher kommt.

Sie dreht sich zu ihr um, blickt erneut in diese glühenden Augen hinein. Es hat eine kalte, leere Wirkung, die sich durch alle Adern ihres Körpers zieht. Die Frage nach dem „Wieso?" taucht wieder auf. Wieso folgt die Dunkelheit ihr durch den ganzen Wald, wenn sie doch Jeden haben könnte? Wieso genau sie? Vielleicht braucht die Dunkelheit sie. Ein Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen. Vielleicht beruht das Gefühl sich zu brauchen auf Gegenseitigkeit. Die langen Fänge der Dunkelheit greifen, rufen nach ihr, weswegen sie ihre Hand nach ihnen ausstreckt, bis sie diese berührt. Die roten Augen der Düsterkeit scheinen zu brennen, geben ihr ein seltsames Gefühl der Wärme, was wohl niemand erklären könnte. „Wieso laufe ich vor ihr weg?", nuschelt sie wie in einem Bann. Sie spürt plötzlich, dass die Dunkelheit ihr nichts Böses will, denn sie will sie nur erlösen. Dieses Mysterium hüllt sie ein, weswegen sie die Augen schließt und sich ergibt. Erlösung und Frieden, innerer Frieden. Das ist es wonach sich alle sehnen oder? Oder sind die Menschen doch nur oberflächliche Zombies ohne eigenen Willen? Diese negativen Gedanken weichen nun der Vorstellung von dieser fernen Traumwelt, ihrer Bestimmung. Entspannung übernimmt ihren Körper und sie verliert den Boden unter ihren Füßen. Nun ist das eben noch so wichtige „Wieso?" egal, genau wie die anderen Fragen und Gedanken in ihrem Kopf. Sie lässt sich einfach in die Arme der Dunkelheit fallen, weil jemand ihre Blume von der Wiese gepflückt hat und die Welt um sie herum verschwimmt bis sie endgültig verschwunden ist.

Dieses Mädchen wurde von der Gesellschaft in die Arme der Dunkelheit getrieben. Ihr kennt ihren Namen nicht und die, die ihn kennen, werden ihn vergessen, doch ihre Geschichte, ihre Flucht und ihr Kampf sind jetzt bekannt. Wollen wir wirklich, dass es so weitergeht? Wenn nicht, wenn wir den Kampf gewinnen wollen, müssen wir gemeinsam kämpfen und die Kraft in uns nicht gegeneinander verwenden.

Auf der FluchtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt