51. Kapitel

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Jitka hatte ihm gesagt, es mache ihr nichts aus. Das sei nicht wichtig. Es sei ihr viel wichtiger, dass er hier bei ihr war und, dass sie zusammen Zeit verbringen konnten. Und im Grunde war das auch ihm das Wichtigste. Aber gleichzeitig hatte ihm das wieder einmal vor Augen geführt, dass sein Körper nicht mehr so mitspielte, wie er sich das vorstellte. Und dass das in nächster Zeit immer weniger oft der Fall sein würde. Er musste das akzeptieren und das Beste daraus machen. Es half nichts, über Umstände zu jammern, die sich doch nicht ändern ließen.

Doch das war leichter gesagt als getan. Er wollte lieber nicht daran denken, wie es ihm in einigen Wochen vielleicht gehen würde, oder in einem Monat, und dann in zwei Monaten. Jedes Mal, wenn er an seine Grenzen stieß, bemerkte er, dass diese wieder ein Stück enger geworden waren. Da nutzte es ihm nichts, dass er sich vorgenommen hatte optimistisch zu bleiben und nicht länger vorauszudenken, als maximal bis zum Ende dieser Woche. Man konnte eben nicht rund um die Uhr optimistisch sein.

Er merkte auch, dass Jitka sich sehr bemühte, ihn bei Laune zu halten. Sie war quirlig, wie eh und je, sie suchte seine Nähe, wann immer es ging. Und er war ihr dankbar dafür. Sie schien ihn gar nicht erst daran denken lassen zu wollen, dass sie sich bald voneinander verabschieden mussten. Und dann ... wer wusste dann schon, wann und ob sie einander von Angesicht zu Angesicht wieder sehen würden.

Manchmal schaute Jitka ihn ein wenig skeptisch an, sie schien ihm die Zuversicht, um die er sich so sehr bemühte, nicht immer ganz abzukaufen. Doch wenn sie einander gegenseitig runterzogen, war damit niemandem geholfen. Und so war das eben. Meist war er bereit zu glauben, dass alles gut ausgehen würde, aber dass sich auch immer wieder Zweifel einschlichen, konnte er nicht verhindern. Er musste ja nicht allen auf die Nase binden, dass er auch öfter darüber nachdachte, dass es vielleicht nicht gut ausgehen konnte. Die anderen machten sich schon genug Gedanken und es gab Dinge, die man nur mit sich selbst ausmachte.

Jedenfalls war Jitka auch begeistert von der Idee, das Stück mit ihm zusammen aufnehmen. Darauf hatte er sehr gehofft. Er hatte sich das nämlich fix vorgenommen, ohne diese Aufnahme wollte er Prag nicht verlassen. Das war, als ob er sie, oder immerhin einen Bruchteil von ihr mit nach Hause nehmen konnte. Und sie würde einen Teil von ihm hierbehalten können.

Sie verbrachten den Rest des Vormittags am Klavier und spazierten später in Richtung Altstadt. Irgendwann am Nachmittag schickte Sylvie ihm ein Foto, das sie vom Konzertsaal gemacht hatte und dann noch eines von einem Flügel, der mitten in einem leeren Zimmer stand, das sie als Beethoven-Salon bezeichnete. Daraufhin machte er ein Selfie von Jitka und sich selbst am Altstädter Ring und schickte es ihr. Damit hatte sie einen Beweis dafür, dass er immer noch lebte und sie schien sich zufriedenzugeben. Im Laufe des Tages schickten sie immer wieder Bilder hin und her und er drehte den Ton seines Handys lauter, damit er keine von Sylvies Nachrichten verpasste und schnell irgendwas antworten konnte. Oft reichte schon irgendein dummes Emoji, dann hatte er zumindest reagiert und sie ließ ihn wieder für ein paar Stunden in Ruhe. Jitka schüttelte darüber nur den Kopf.

"So wird sie nie lernen, dass sie dir vertrauen kann. Dass sie uns vertrauen kann", beschwerte sie sich. Natürlich fühlte sie sich durch Sylvies Verhalten auch ein wenig kritisiert. Und Sylvie hatte wenig getan, um Jitka positiv für sich einzunehmen, eher im Gegenteil. Jitka wiederum konnte manchmal ein wenig aufbrausend und impulsiv sein. Er hoffte, dass es da nicht irgendwann krachte. Vielleicht konnte er ja ein wenig deeskalierend auf die beiden einwirken. Aber Sylvie machte ihm das nicht gerade leicht. Was ihr heute Morgen eingefallen war, konnte er sich immer noch nicht so richtig erklären.

"Weißt du, du musst dir nicht alles von ihr gefallen lassen, nur weil sie deine Schwester ist."

"Nein, das tu ich auch nicht. Normalerweise ist sie nicht so. Also nicht ganz so. Das kannst du mir glauben. Sie ist im Moment ... irgendwie aus dem Gleichgewicht."

Jitka stieß einen Laut des Unmuts aus. "Das ist noch lange kein Grund, sich so aufzuführen. Aber du würdest sie vermutlich immer in Schutz nehmen, egal was sie tut."

"So würde ich das nicht sagen. Die Aktion heute fand ich mehr als daneben, das kannst du mir glauben. Ich mag es überhaupt nicht, wenn sie sich in alles einmischt. Aber ich kann mich eben immer auf sie verlassen. Sie war quasi mein Rettungsanker. Mehr als einmal."

Damals in Moskau. Sie hatte alles stehen und liegen gelassen, war mit ihrem Laptop auf dem unbequemen Sessel neben seinem Krankenhausbett gesessen und hatte von dort ihre Arbeit erledigt. Er war in seinem tiefen Loch versunken, die kleinsten Kleinigkeiten waren ihm unmöglich erschienen und er war kaum in der Lage gewesen einen klaren Gedanken zu fassen. Sylvie hatte einfach alles für ihn erledigt. Sie hatte das Visum verlängert, den Heimflug gebucht. Auf dem Flughafen hatte er beim Sicherheitscheck die Nerven weggeschmissen. Zuerst hatte die Angestellte ihn dreimal angeschnauzt und er hatte trotzdem nicht verstanden, dass er einfach seine Jacke in die Box auf dem Fließband legen sollte, danach hatte er seine Schuhe nicht mehr gefunden, irgendwann war er aufgelöst in einer Ecke gesessen. Das Fieber hatte ihn wieder geschüttelt, die Beleuchtung war zu grell gewesen, die Stimmen der Menschen und die Lautsprecherdurchsagen hatten ihm in den Ohren weh getan. Sylvie hatte einfach alle seine Sachen eingesammelt, ihn davon überzeugt, dass alles wieder da war und dann hatte sie ihn doch noch irgendwie nach Hause gebracht. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie alles ohne sie ausgegangen wäre. Aber diese unerfreulichen Geschichten ersparte er Jitka lieber.

"So sehr sie mir auch manchmal auf die Nerven gehen kann ... sie darf sich einiges erlauben, das hat sie sich verdient."

Jitka schaute ihn kurz an, ungläubig, vielleicht auch ein wenig fassungslos. Dann spürte er wieder ihren Arm auf seinem Rücken und sie legte im Weitergehen ihren Kopf an seine Schulter.

"Manches verstehe ich vielleicht nie. Euch zwei zum Beispiel. Mag daran liegen, dass ich ein Einzelkind bin. Ich will einfach nicht, dass sie dir weh tut." Erik lächelte nur, schüttelte den Kopf und legte seinen Arm um Jitkas Schultern. Seltsamerweise hatte Sylvie irgendwann genau das Gleiche über Jitka gesagt und das war ihm gleichermaßen absurd erschienen.

Als sie später am Abend wieder in die Wohnung kamen, bemerkten sie, dass Sylvie ihren Koffer und ihre Sachen mitgenommen hatte. Einerseits war ihm völlig klar gewesen, dass sie das tun würde. So war das für sie schließlich praktischer, wenn sie vorhatte bei Karina zu bleiben. Andrerseits fühlte es sich irgendwie seltsam an, dass alles was Sylvie gehörte jetzt fort war. Aber er sagte nichts mehr dazu. Für heute hatten sie genug über seine Schwester geredet und er hatte keine Lust auf noch so ein Gespräch.

Das Schicksal spielt in Dur und MollWo Geschichten leben. Entdecke jetzt