30. November 2018

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[Prolog # Freitag]

Gähnend schließe ich das dicke Mathematikbuch, das ich gleich drei Stockwerke nach unten tragen darf, um es in meinem Spind zu verstauen. Während unsere Lehrerin die Tafel putzt, lasse ich meinen Nacken knacken. "Urgh", gibt meine Sitznachbarin ein würgendes Geräusch von sich. Lachend wende ich mich zu Melissa, die mich aus ihren braunen Teddybäraugen böse anstarrt. "Kommt nicht wieder vor", versichere ich ihr schnell. Dabei weiß ich ganz genau, dass ich nach der nächsten Unterrichtsstunde meinen Nacken erneut einrenken werde.

"Bitte hört mir noch kurz zu", legt Miss Biffin ihre Handflächen aneinander. "Der Grund, weshalb ich den Unterricht einige Minuten früher beendet habe, ist ein kleines Projekt, das ich anlässlich der Weihnachtszeit entwickelt habe. Ich möchte, dass jeder von euch einen Zettel zieht", hebt die zierliche Frau einen geflochtenen Korb in die Höhe, "auf jeden Zettel habe ich einen Namen eines Schülers, der diesen Mathekurs besucht, geschrieben. Eure Aufgabe für den kommenden Monat ist es, die Person, die ihr gleich zieht, aufmerksam zu betrachten und ein paar nette Worte über sie zusammenzutragen. Wir werden uns dann am vorletzten Schultag zusammensetzen und jeder stellt seine Beschreibung der gezogenen Person vor."

Sobald die Blondhaarige zu Ende gesprochen hat, ertönt das erste Stöhnen. Seufzer und leises Gemurmel reihen sich sofort ein und erfüllen den Klassenraum mit dem typischen Geräuschpegel, der entsteht, wenn man seine Lehrer nicht einmal ansatzweise versteht. "Meint sie das ernst?", verdreht meine Freundin neben mir ihre Augen. "Scheinbar", stütze ich mein Kinn auf meinen zu Fäusten geballten Händen auf.

Das ist das ätzende an jungen Lehrern. Sie glauben, sie könnten das soziale Verhalten der Schüler noch aufwerten, bevor sie die Schule verlassen und in das kalte Wasser des selbstständigen Lebens gestoßen werden. Aber es hat wenig Sinn, Jugendliche dazu zu zwingen nett zu sein. Meistens tritt in solchen Situationen das genaue Gegenteil ein.

Miss Biffin bleibt vor unserem Tisch stehen und wir greifen gleichzeitig in den Korb hinein. Ich muss Mel nicht einmal ansehen, um zu wissen, dass sie mir ihren gezogenen Namen zeigen wird. Somit tue ich es ihr ohne weitere Aufforderung gleich. 'Kendrick Joel Sandfort', steht in einer ordentlichen Schrift auf ihrem Zettel.

Ein stets gut gelaunter, dunkelhäutiger Junge, der in der ganzen Schule als K. J. bekannt ist. Er ist ein offenes Buch und mit wirklich jedem aus der Abschlussklasse gut gestellt. Für Melissa wird es ein Leichtes sein, einige nette Worte über ihn aufzuschreiben.

Als mein Blick schließlich auf meinen eigenen Zettel fällt, muss ich mich zurückhalten, meinen Kopf auf die Tischplatte vor mir zu hauen. "Genoveva Price", murmle ich ein wenig angewidert. Die Person ist genauso aufgeblasen, wie der Name klingt, wenn man ihn mit gekräuselter Nase laut vorliest. Ein Mädchen, das in ihrem nächsten Leben in einem Prinzessinnenschloss wahrscheinlich besser aufgehoben wäre.

"Du hilfst mir, etwas nettes über Eva herauszufinden, oder?", wende ich mich hoffnungsvoll an meine Sitznachbarin. Doch Mel gibt nur ein Grunzen von sich. "Na, vielen Dank auch", werfe ich sie mit meinem Radiergummi ab. Bevor das braunhaarige Mädchen ihn zurückwerfen kann, wird sie von unserer Lehrerin ermahnend angesehen. Daraufhin entflieht mir ein schadenfrohes Lachen.

Eine dunkle Stimme aus den hinteren Reihen zieht wenige Minuten später die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse auf sich. "Wer tauscht mit mir?", fragt der Blondhaarige gelangweilt. Es dauert nicht einmal eine Sekunde, da haben schon zahlreiche Schülerinnen ihren Arm ausgestreckt und bieten Carter Morris einen neuen Zettel an. 

Grinsend beobachte ich das Spektakel, wie sich der Jungen in aller Seelenruhe einen neuen Zettel aussucht. Seine dunkelblonden Haare stehen in alle Richtungen ab, da sie sich an der Kapuze seines Pullovers, die er erst vor wenigen Minuten abgesetzt hat, aufgeladen haben. Ich meine, ihn noch nie in etwas anderem, als Sportkleidung gesehen zu haben.

Einen kurzen Moment überlege ich, ob ich ihm vielleicht Genoveva anbieten soll. Doch dann würde ich mich auf das gleiche Niveau, wie die meisten anderen Mädchen in diesem Kurs hinabbegeben. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Alisha schließlich die Auserwählte ist, die mit dem Hockeyspieler tauschen darf.

Als die ersten Schüler die Klasse verlassen, schmeiße ich meine Schulsachen achtlos in meinen lila Jutebeutel, den mir Melissa vor Jahren geschenkt hat, nachdem sie mit schwarzer Textilfarbe 'Keep quiet I'm listening to Shawn Mendes' draufgemalt hat. Da sie bereits an der Tür auf mich wartet, drängle ich mich zwischen den übrig gebliebenen Schülern hindurch. 

"Paige", ruft mich Carter, sodass ich mich noch einmal umdrehen muss. "Hast du?", setzt er zu einer Frage an, als ich meine Augenbraue abwartend in die Höhe ziehe. "Vergiss es", winkt er jedoch sofort wieder ab. "Geht klar, Morris", strecke ich meinen Daumen spottend in die Höhe. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er beim Eishockeytraining zu oft gegen die Bande gestoßen wird.  

Während wir den Klassenraum wechseln, gleitet mein Blick immer wieder zu den Buchstaben auf dem kleinen Zettel. Genoveva Price. Meine ganze Schulzeit lang bin ich ihr so gut, wie es möglich war, aus dem Weg gegangen. Nun muss ich mich mit ihrer Persönlichkeit auseinandersetzen und einige nette Worte über sie aus meinen Fingern saugen. Es ist nur ein Stück Papier. Aber es versaut mir die Vorfreude auf Weihnachten gewaltig.

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before i go onstage i pee…like, 10 times!

Lasst mich wissen, was ihr von dem Prolog haltet 🙆🏻‍♀️

Nur ein Stück Papier •Shawn Mendes•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt