11. Dezember 2018

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[Kapitel 11 # Dienstag]

Die reguläre Probenzeit ist bereits überschritten, als Mister Onyschuk in seine Hände klatscht. "Das war ganz fabelhaft", nickt er immer wieder, "aber wir wiederholen das noch einmal. Und dann üben wir noch die Schlussszene ein." Vereinzelt ist ein Stöhnen oder Seufzen zu hören. Aber keiner beschwert sich persönlich bei unserem Lehrer, dass wir erneut verspätet Schluss machen werden.

Da ich in der Szene, die momentan geprobt wird, keinen Einsatz habe, bleibe ich auf der kleinen Fensterbank am Rand der Bühne sitzen. Generell bin ich die Einzige, die in dieser Szene nicht mitspielt. Alle anderen Kursteilnehmer laufen eilig über den Holzboden und warten darauf, dass die Musik erneut einsetzt.

Mary hatte zu Beginn des Kurses vorgeschlagen, dass man die Szene, in der die Vorbereitungen für den Weihnachtsabend im königlichen Schloss getroffen werden, wie in einem Musical aufziehen könnte. Die meisten waren sofort damit einverstanden und die, die es nicht waren, mussten sich der Mehrheit fügen.

Während William, der den jungen Prinzen spielt, um den Weihnachtsbaum herumschreitet und seinen Text singt, fällt mein Blick in den Zuschauerraum. Lässig lehnt Shawn an der Wand neben der Eingangstür. Seine Haare sind von dem Sturm, der draußen wütet, ganz zerzaust und ich habe das Gefühl, dass sich seine Augen in meine Schulter bohren.

Den Gedanken daran, dass er mir versprochen hat, mich von der Probe abzuholen, habe ich den Tag über versucht zu verdrängen. Dennoch ging mir die Nachricht, die nach der Mittagspause in meinem Spind lag, nicht aus dem Kopf.

I know there are some things we need to talk about.

Ich wäre die Letzte, die ihm in diesem Punkt widersprechen würde. Wir beide haben definitiv einige Dinge zu bereden. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob Shawn wirklich mit der Sprache rausrücken wird. Schon gestern ist unser Gespräch gescheitert. Und ehrlich gesagt, kann ich meine Gedanken und Gefühle, die in meinem Kopf und Bauch Achterbahn fahren, überhaupt nicht richtig einordnen.

"Paige! Die Schlussszene", ruft mich Mister Onyschuk auf die Bühne. Nickend springe ich von der Fensterbank und hoffe, dass mich mein Lehrer nicht allzu oft gerufen hat, bevor ich reagiert habe. "War da jemand im Land der Shawn Mendes Träume verschwunden?", flüstert mir William amüsiert zu, als ich mich vor ihn stelle.

Erbost haue ich ihm gegen seinen Oberarm. "Das ist der Theaterkurs und nicht der Boxkurs", lacht der Blondhaarige ausgelassen. Dann strafft er seine Schultern und schlüpft erneut in die Rolle des Prinzen. "Du bist gekommen", breitet William seine Arme aus, während ich meinen Kopf senke – so wie es im Skript geschrieben steht.

Nachdem wir unseren restlichen Text aufgesagt haben, kommen wir zu der entscheidenden Stelle, über die wir im vorab schon ausführlich gesprochen haben. Der Junge legt seine Hand so an meine Wange, dass die Spitze seines Daumens auf meinen Lippen liegt. Aus der Sicht des Publikums wird dies jedoch nicht zu sehen sein.

Meine Finger greifen nach dem Stoff seines Pullovers. Wenn wir bei der Aufführung unsere Kostüme tragen, werde ich seine Krawatte anstelle umschließen. Grinsend drückt William seinen Mund auf meinen – beziehungsweise auf seinen Daumen.

"Großartig!", applaudiert Mister Onyschuk nur wenige Sekunden nachdem wir uns voneinander gelöst haben. "Für heute machen wir dann Schluss", scheucht uns der Japaner von der Bühne. William ein High Five gebend sammle ich meine Sachen zusammen, um danach zu Shawn zu gehen.

"War das nötig?", begrüßt mich der Braunhaarige, während er sich von der Wand abstößt. "Was?", sehe ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Na, der Kuss", deutet er genervt in die Richtung der anderen Schüler. Laut lachend drehe ich mich für einen Moment von ihm weg.

Nur ein Stück Papier •Shawn Mendes•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt