Himmelsweite

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Ich blicke mich noch einmal um und vergewissere ich mich, dass niemand in der Nähe ist. Die Sonne ist mittlerweile schon ganz über den Horizont gestiegen und die letzten Strahlen des Farbspiels beginnen zu verschwinden.
Was mache ich denn jetzt überhaupt? Immerhin ist Wochenende und noch frühmorgens.
Aber die Flügel? Was ist mit denen?

Moment mal. Mir ist etwas komplett entfallen. Konzentriert schließe ich die Augen und versuche, einfach mal meinen Rücken zu spüren. Da, ich spüre tatsächlich etwas. Aber nichts unangenehmes, lediglich meinen eigenen Körper. Schließlich gehören diese Flügel nun zu mir.
Wenn es Flügel wären, dann ... könnte ich sie doch bewegen?
Also versuche ich es. Erst muss ich erstmal die benötigte Muskelpartie finden, doch dann - sie haben sich bewegt! Ich spüre sie wirklich!

Ich drehe den Kopf zu den Flügeln und bewege sie noch einmal leicht. Da! Sie bewegen sich wirklich minimal! Unglaublich. Ich wiederhole es immer und immer wieder, bis ich immer sicherer werde. Schließlich habe ich die Muskeln aktiviert, ich habe ausreichend Kontrolle über sie. Und nun - geht das wirklich? Ich konzentriere mich wieder und versuche es. Ich spüre, wie ich sie bewege und schaffe mittlerweile auch große, deutliche Bewegungen. Vorsichtig strenge ich mich an, bis sie sich sogar aus der zusammengefalteten Form lösen - und mit der Zeit sogar aufklappen!
Staunend halte ich die sie ausgestreckt und fasse es kaum. Ich kann zwei riesige weiße Flügel an meinem Rücken bewegen!
Ich teste mich an den typischen Flatterbewegungen, doch es ist gar nicht so leicht. Ich muss mich erst konzentrieren, sie überhaupt zu bewegen, schließlich war es nichts alltägliches, wie etwa einen Arm zu heben. Ich muss Kontrolle über den kompletten Flügel erlangen und mich mit jedem Muskel vertraut machen, der diese mächtigen Schwingen durchzieht.

Wären sie trainiert, waren es sicher massive Schwingen. Wie schön es wäre, sich damit in die Lüfte zu erheben... Verträumt hebe ich den Blick in den Himmel, wobei ich mir wieder meiner Umgebung bewusst werde. Beunruhigt schaue ich mich wieder um. Aber theoretisch ist es unwahrscheinlich, dass jemand die weiten Felder auf den Hügeln hinaufsteigt, wo wir wohnen. Trotzdem nehme ich mir vor, wachsam zu bleiben.
Ein weiteres Mal versuche ich mit den Flügeln zu schlagen.

Nach einiger Zeit üben fühle ich mich schon ziemlich sicher. Kann ich es wirklich wagen?
Ich muss es einfach probieren. Wozu sonst habe ich die auf dem Rücken?
Möglichst leise entferne ich mich aus unserem Hintergarten, auch wenn meine Eltern höchstwahrscheinlich immer noch schlafen, und laufe in die weiten Felder. Möglichst weit weg vom nächsten Dorf.

Mitten im Feld setze ich mein Vorhaben in die Tat um. Vorsichtig beginne ich mit den Flügeln zu schlagen. Es werden wirklich starke Muskeln benötigt. Aber die habe ich schon. Sie mussten nur aktiviert werden.
Mit kurzen, aber kräftigen Flügelschlägen hebe ich schließlich ab. Der Boden verschwindet unter meinen Füßen!
Ich konzentriere mich voll auf den Flügelschlag, während ich immer höher steige.

Mir wird plötzlich meine Situation wieder bewusst. Das ist echt unglaublich! Ich stehe hier wortwörtlich in der Luft! Mit echten Flügeln! Ich kann es kaum fassen.
Dennoch ist das das beste, das ich je erlebt habe. In die Lüfte aufzusteigen ist ... unbeschreiblich. Ich bin in der Luft - in diesem Nichts zwischen Himmel und Erde. Und ich fühle mich, wie als könnte ich alles schaffen.

Immer wenn ich erneut in die Luft aufsteige, ist es ein berauschendes Gefühl. Pures Adrenalin durchrauscht mich und jauchze vor Glück. In den Himmel aufzusteigen ist - es ist für mich unerklärlicherweise so, als würde ich in ein zweites Zuhause zurückkehren. Es fühlt sich einfach richtig an. Genauso, wie diese mächtigen Schwingen auf meinem Rücken zu bewegen.

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