Er wusste es selbst nicht. Was da vorhin passiert war. Was er da getan hatte. Und vorallem wieso.
Heute Morgen war noch alles normal gewesen. Ein ganz gewöhnlicher Sommertag. Er war nach draußen gegangen und die schwüle, heiße Luft hatte sich wie ein klebriger Umhang um seinen Körper gelegt. Er konnte noch das vertrocknete Gras in seinem Vorgarten an seinen nackten Fußsohlen spüren. Die Luft hatte in der Ferne geflimmert und am Himmel war keine einzige Wolke gewesen. Wie er diese Hitze liebte.
Was war nur schiefgelaufen?
Wie hatte das alles nur so eskalieren können? Nach dem Frühstück war er zwischen den Feldern spazieren gegangen, war an erntereifen Maisfeldern und ungenutzten Weiden vorbeigekommen; bei dieser Hitze blieben die meisten Menschen lieber im Haus. Und so hatte er den Sommer für sich. Dieser Spaziergang war sein kleines Ritual. Jeden Sonntag lief er auf Feldwegen kilometerweit durchs Nirgendwo, bis er irgendwann wieder zu seinem Haus gelangte. Über die Zeit konnte er den Pflanzen beim Wachsen zusehen, was unglaublich beruhigend war, war es doch ein Zeichen dafür, dass die Welt sich weiterdrehte.
Denn wenn er an diese merkwürdige Stille dachte, die ihn seit geraumer Zeit Tag für Tag begleitete, war diese Tatsache für ihn gar nicht so selbstverständlich. Ja, mit dieser Stille musste es zu tun haben. Da war er sich sicher. Aber was genau? Genaugenommen war es nicht einmal Stille, eher soetwas wie ein lautloses Rauschen,eine stille Gewalt, eine gewaltige Stille.Er saß in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda vorm Haus. In seinem Schoß lag 'Der alte Mann und das Meer' von Hemmingway. Nur bis Kapitel zwei war er gekommen. So schwer fiel es ihm, über diese Stille hinweg die Worte zu sich zu holen, vielleicht lag es aber auch an dem Nebel in seinem Kopf, der seit dieser Sache immer dichter wurde. Er hob den Blick, auch dieser schien vom Nebel getrübt zu sein, und betrachtete das hölzerne Geländer, von dem an einigen Stellen die weiße Farbe schon vollständig abgeblättert war. Er musste es dringend abschleifen und neu streichen. Seit Wochen musste er das schon. Und in diesem Moment wurde es ihm bewusst, wirklich bewusst, wie sehr in diese Stille lähmte.
Er war erschüttert. Nein, mehr als das. Diese Erkenntnis hämmerte mit unvorstellbarer Gewalt in seinem Kopf, brachte jeden Gedankengang zum Einsturz, und doch liefen alle Gedanken an diesem einen Punkt zusammen. Er war krank, unheilbar krank. Deshalb, das war der Grund für sein Absturz vor einigen Stunden. Er war so lange Zeit am Abgrund balanciert, ohne überhaupt etwas davon zu merken, hatte sich vorgespielt, alles wäre wie immer, warum sollte sich denn auch etwas ändern? Und das war es gewesen, was ihn zu dieser Tat gebracht hatte. Er war gestolpert und gefallen. Und er fiel immer noch, so kam es ihm jedenfalls vor.
Klar, er konnte das Holz seines Schaukelstuhls unter sich spüren, roch das vertrocknete Gras, fühlte die Hitze um sich herum, sah die Gruppe von Vögeln, wahrscheinlich Krähen, am Himmel, spürte vereinzelt die Stiche in seinem Herzen. Und er hörte diese Stille. Aber ganz tief in sich drin wartete er noch. Auf den Aufprall, darauf, dass etwas passieren würde, was ihn aus dieser Stille befreite. Vielleicht hatte er auch das Richtige getan.
Am späten Vormittag war er völlig verschwitzt von seinem Spaziergang zurückgekehrt. Er war in sein Schlafzimmer gegangen, hatte die Holzdielen unter seinem Gewicht knarren gehört. Er hatte sich ein paar frische Klamotten rausgesucht, auch die wurden immer weniger, da diese Stille ihn selbst vom Wäsche waschen abhielt. Als er dann aus der Dusche kam und sein verschwommenes Gesicht im beschlagenen Spiegel betrachtete. Das war der Moment gewesen, in denen er sich selbst plötzlich fremd war. In dem er sein Spiegelbild nicht mehr hatte ertragen können. In dem ihm klar geworden war, dass er nicht mehr er selbst sein wollte.
Als er genug von den vorwurfsvollen Blicken seines Spiegelbilds hatte, öffnete er den Badezimmerschrank. Er weiß noch immer nicht, was er sich dabei gedacht hatte. Eigentlich hatte er überhaupt nicht gedacht. Es war mehr so gewesen, als sei er eine Marionette. Gesteuert von dieser stillen Gewalt, die das einzig Richtige tun wollte.
Sein Blick fand sofort die Pappschachtel mit den Pillen, die sein Arzt ihm wegen seinem Herzen verschrieben hatte. Nach dem Tod seiner Frau hatte er niemanden gehabt, der von ihm verlangte sie einzunehmen. Doch jetzt griff er danach. Zog die Lasche des Deckels auf und öffnete die Packung. Er nahm den Beipackzettel heraus. Warf ihn beiseite. Holte den ersten Blister heraus. Drückte auf das gewölbte Plastik bis ihm die erste Tablette in die geöffnete Handfläche fiel. Er legte sie beiseite. Machte weiter. Bis ein kleiner Haufen Pillen auf seinem Waschbeckenrand lag. Er füllte Wasser in seinen Zahnputzbecher. Die Pillen in seinem Mund fühlten sich falsch an und er musste würgen. Aber so entschlossen, wie diese stille Gewalt zu seien schien, griff er zum Becher. Er schluckte. Schluckte noch einmal. Immer wieder, bis der grässliche Klumpen aus weißem Matsch endlich nicht mehr in seinem Hals steckte. Erneut musste er würgen.
“Was hatte er nur getan?”, dachte er, und legte dabei den Kopf in den Nacken. Der Schwindel und die Übelkeit die kurz nach seiner Tat eingesetzt hatten wurden schlimmer. Er fühlte sich wie gelähmt. Sein Körper fühlte sich an, als habe er keine Tabletten sondern Steine geschluckt.
Ihm war klar, dass er wahrscheinlich sterben würde und ihm war auch klar, dass, wenn dies der Fall sein sollte, ihn niemand finden würde. Oder erst sehr, sehr viel später. Nachdem die Krähen ihm seine Augen ausgepickt hatten. Nachdem er schon begonnen hatte, diesen verfaulten Geruch abzusondern, wegen dem die Komissare in den Krimis, die seine Frau immer angeschaut hatte, das Gesicht verzogen und sich die Nase zuhielten.
Aber das konnte ihm dann ja egal sein. Für den Moment lauschte er nur seinem Herzen, das immer mehr ins holpern geriet, immer langsamer, immer unregelmäßiger. Wenn es für eine Sekunde ganz stillstand, spürte er diesen Schmerz in der Brust.
Diese gewaltige Stille schien in diesen kaputten Momenten beständiger zu sein, als je zuvor.
Beharlich schwieg sie ihn an.
Und wartete.
Mit ihm.Auf das Ende.