Es war ein wunderschöner Sonntag im Juni. Draußen schien die Sonne und es waren 25 Grad Celsius. Mina und ich trugen unsere weißen Sommerkleider mit rotem Rosenmuster, die uns Mama zu Ostern geschenkt hatte und spielten mal wieder im Garten. Ich schaukelte während meine große Schwester mit ihren Barbiepuppen und Schnuffi im Sandkasten spielte. Sie hatte sogar eine kleine Sandburg gebaut und sie mit Gras und gelben und weißen Blumen aus Mamas Blumenbeet dekoriert. Ich beobachtete sie fasziniert, wie sie konzentriert einen inneren Monolog führte, mit einer Hand mit Schnuffi in der Luft rumfuchtelte und mit der anderen versuchte eine Puppe mit einem Stock, der wohl ein Schwert darstellen sollte, zu bewegen. Ich fragte sie schon gar nicht ob ich mitspielen dürfte, weil ich ganz genau wusste dass ich ihr Spielprinzip nicht verstehen würde. Mal wieder fragte ich mich wie sie so kreativ sein konnte und ich nicht mal ein Bild über meine Traumwelt in der Schule malen konnte. Ich stand von der Schaukel auf, ging zum Apfelbaum und wollte mir gerade einen pflücken, als ich mich erinnerte dass es gleich Mittagessen geben würde. Seufzend legte ich mich aufs Gras und starrte in den Himmel. Keine einzige Wolke war zu sehen und ich fing an in gebrochenem Englisch mein Lieblingslied zu singen, was uns Mama früher immer zum Einschlafen gesungen hat.
Would you know my name
If I saw you in heaven?
Would it be the same
If I saw you in heaven?Sie hatte wirklich eine engelsgleiche Stimme, doch nicht mal die habe ich von ihr geerbt, denn ich konnte überhaupt nicht singen. Das ließ mich meine große Schwester auch spüren, denn obwohl ich nur ganz leise vor mich hin sang rief sie „Kaya, hör auf zu singen, meine Ohren fangen gleich an zu bluten" Man, musste sie direkt wieder so übertreiben? Beleidigt drehte ich mich mit dem Gesicht zu ihr und fuhr sie direkt an: „Du kannst och nicht besser singen! Also lass mich!" „Natürlich kann ich das! Sogar viel besser als du!" rief sie empört zurück. „Gar nicht!" „Doch!" „Nein! „Doch!" kurz bevor der Streit zu eskalieren drohte rief uns unsere Tante ins Haus. „Kinder, hört auf zu streiten und kommt essen! Ich hab Spaghetti für euch gemacht." Blitzschnell sprangen wir auf und liefen zu ihr ins Haus. „Wann kommen Mama und Papa wieder?" Mina schaute sie von unten mit großen Augen an. „Sie sind schon auf dem Weg, sie sollten nach dem Mittagessen zuhause sein" sie lächelte Mina an, dessen Gesicht sich sofort aufhellte. Die Schwester meines Vaters war extra zu uns nach Amerika gekommen um auf uns aufzupassen, weil Mama und Papa für 2 Wochen auf Geschäftsreise irgendwo im Ausland waren. ‚Sie werden also jeden Moment hier sein' dachte ich und lächelte leicht in mich hinein. Ich war noch nie ein Mensch der besonders stark Gefühle zeigte, im Gegensatz zu Mina die bei jeder Kleinigkeit zu strahlen, zicken oder weinen anfing. Das einzige was mich zum Weinen bringen konnte war wenn es Mina schlecht ging, denn obwohl ich sie manchmal ärgerte war sie meine beste Freundin und ich hatte sie mehr lieb als alles Andere auf der Welt. Schon als ich 5 war hatte ich mir vorgenommen sie vor allem Bösen zu beschützen weil sie ja so schrecklich sensibel war und sich über alles was andere über sie dachten Gedanken machte. Ich meinte immer zu ihr dass alle die was blödes zu ihr sagten nur neidisch auf sie waren, aber das glaubte sie mir natürlich nicht. Dann sagte ich ihr immer dass sie das tollste Mädchen auf der ganzen Welt ist und kitzelte sie bis sie wieder anfing zu lachen.
Da ich als erste am Tisch saß, weil Mina noch ihre Hände vom Sand abwaschen musste, musste sie auch den Tisch decken. Nachdem sie fertig und total mies drauf war, fingen wir auch schon an zu essen. Ich schlang natürlich wie immer alles runter, Mina jedoch stocherte lange in ihrem Essen rum und aß sehr zögerlich, was mich ziemlich wunderte, da Spaghetti ihr Lieblingsessen war. Meiner Tante schien es auch aufgefallen zu sein. „Mina Schatz, geht es dir gut? Du isst so wenig" fragte sie besorgt. Mina zuckte kaum merkbar zusammen und sah ihr nicht in die Augen als sie antwortete. „Ich... habe einfach keinen Hunger." Unsere Tante schien ihr zu glauben, sagte nur kurz „Ach so, na dann" und widmete sich wieder ihrem eigenen Essen. Ich aber wusste dass sie log und würde sie später darauf ansprechen. Wir redeten noch über Gott und die Welt bis es spät nachmittags wurde. Nachdem wir unser Geschirr in die Spülmaschine gebracht hatten, gingen wir in unsere Zimmer um unsere Hausaufgaben zu machen während die Schwester meines Vaters meinte, sie würde mal unsere Eltern anrufen und fragen was denn so lange dauern würde. Ich hörte anfangs Fußstapfen im Flur und manchmal komische Geräusche im Bad, dachte mir jedoch nichts dabei und machte einfach weiter meine Hausaufgaben, bis unten das Telefon klingelte und meine Tante nach einigen Sekunden laut aufschrie. Ich rannte direkt aus meinem Zimmer und traf im Flur auf Mina, die erschrocken aus dem Bad gelaufen kam. „Was meinst du was da unten los ist?" fragte sie mich panisch, aber dennoch leise. „Ich weiß es nicht, aber wenn Tantchen schon so laut schreit muss es was Schlimmes sein" entgegnete ich genauso besorgt. Als wir unten ankamen beendete unsere Tante das Telefonat mit den Worten „Dankeschön und bis gleich" und brach in Tränen aus. Sie hatte uns noch nicht bemerkt und fing an mit zitternden Händen irgendwelche Sachen zusammenzukramen. Sie war total blass und schluchzte die ganze Zeit total verzweifelt. „Wo gehst du hin, Tante?" fragte meine Schwester ängstlich, ließ somit unsere Tarnung auffliegen und kassierte somit einen Schlag auf den Hinterkopf von mir. „Man, denkst du echt jetzt wird sie uns das sagen?! Kannst du nicht ein mal deinen Mund halten?" sagte ich empört und fing an zu schmollen. Da wollte man ein mal Sherlock Holmes spielen und dann kommt so ein blöder Watson und zerstört den ganzen Plan. „Mädchen, jetzt ist echt nicht die Zeit für solche Späße! Es ist ein Notfall und ich muss dringend ins Krankenhaus, ihr müsst mir versprechen auf euch aufzupassen solange ich weg bin. Falls etwas sein sollte, geht bitte zur Nachbarin und sagt ihr Bescheid, sie wird mir schon Bescheid geben. Ich sollte bis spätestens heute Nacht wieder zurück sein, macht euch bitte keine Sorgen und stellt jetzt keine Fragen." ihre Stimme war schwach und brach mehrmals, man merkte dass sie versuchte stark zu sein, jedoch kläglich daran scheiterte. „Ihr dürft heute so viel fernsehen wie ihr wollt, unter der Bedingung dass ihr um neun schlafen geht, eure Ranzen packt und eure Sachen für morgen rauslegt. Und vergesst nicht, egal was passiert, ihr müsst stark bleiben und für immer zusammenhalten" Sie kam zu uns gerannt, gab uns Beiden flüchtig einen Kuss auf die Stirn und verschwand dann auch schon durch die Tür. Mina und ich wechselten einen Blick und waren die ersten paar Minuten erst mal total verwirrt, weil wir nicht realisierten was gerade passiert war. „Komm, wir machen den Fernseher an und beruhigen uns erst mal, so wie Tante es gesagt hat." Sie nahm mich an der Hand und zog mich ins Wohnzimmer. Obwohl Mina sich manchmal wie ein kleines Baby benahm, war sie schließlich älter und deutlich klüger und verantwortungsbewusster als ich, und ich war stolz so eine tolle große Schwester wie sie zu haben. Nachdem wir alles gemacht hatten was unsere Tante von uns verlangt hatte, machten wir um neun den Fernseher aus und gingen in Minas Bett schlafen. Immer wenn wir Angst hatten, zum Beispiel vor Gewittern oder wenn wir alleine waren, schliefen wir zusammen bei ihr im Bett weil wir uns dann viel wohler fühlten und nicht solche Angst hatten. Als wir am nächsten Tag aufwachten, machten wir uns wie gewohnt fertig, mit dem Unterschied dass unsere Nachbarin gekommen war um uns in die Schule zu bringen und später wieder abzuholen, weil Tantchen wohl länger als erwartet im Krankenhaus bleiben musste. So ging das die restliche Woche lang, ohne irgendwelche Informationen über unsere Tante oder unsere Eltern. Unsere Nachbarin erzählte uns nichts und versuchte immer von Thema abzulenken, indem sie mit uns entweder Eis essen oder in den Zoo oder ähnliches ging. Sie meinte sie würde nichts wissen, aber ich war mir sicher dass sie uns nur nichts erzählen wollte. Kein einziger Tag verging ohne dass Mina und ich versuchten uns gegenseitig zu beruhigen, am Ende jedoch trotzdem weinend in den Armen der jeweils Anderen einschliefen. Wir hatten solche Angst, trotzdem versuchten wir stark zu bleiben und uns keine Sorgen zu mache indem wir beteten und uns einredeten dass alles wieder gut wird. Dass irgendwann, schon sehr bald, alle wieder zurückkehren würden und alles wieder werden würde wie früher. Am Freitagnachmittag kam unsere Tante zurück und ihr Anblick war zum Weinen. Sie war blass mit dunklen Augenringen, ihre Haare standen in alle Richtungen ab und sie schien seit Tagen nichts mehr gegessen zu haben. Der Ausdruck in ihren Augen sagte mehr als tausend Worte. Sie hatte die letzten Tage durchgeweint und sie sah aus als hätte sie die Hoffnung aufgegeben und als wäre sie schlussendlich innerlich gestorben. Wir stürmten auf sie zu und umarmten sie so stark wie wir konnten. Noch bevor eine von uns etwas sagen konnte, fing sie an zu zittern und brach in seinem verzweifelten Schluchzen aus. Mein Herz raste, die Panik stieg in mir auf und ich ahnte Böses. Nach 2 Minuten in denen wir sie nicht losgelassen hatten, hatte sie sich genug beruhigt um mit uns zu reden. „Mädchen, ihr müsst jetzt stark bleiben..." fing sie kaum hörbar an. „Ich, die Ärzte, alle, haben versucht was sie konnten..." Moment mal. Sie würde doch nicht etwa sagen... Mein Puls schoss in die Höhe und ich war kurz vor einer Panikattacke. Mittlerweile zitterte ich am ganzen Körper. Nein. Bitte nicht. Alles nur nicht das. „Eure... eure Eltern sind..." Sie war mit ihren Kräften am Ende und hatte scheinbar einen Kloß im Hals, den sie nicht runterschlucken konnte. „WARTE MAL" schrie ich voller Verzweiflung, weswegen sie kurz aufschreckte. „SIE LEBEN NOCH, ODER?! BITTE SAG MIR DASS SIE NOCH AM LEBEN SIND" ich weinte und irgendwie hatte ich das Gefühl, die Antwort auf die Frage bereits zu kennen, obwohl ich sie nicht wahrhaben wollte. Meine Tante fing wieder an zu schluchzen und schaute mich mit einem Blick an, der voller Mitleid und Verletzung steckte. „Ich wünschte, ich könnte das... Es tut mir so unglaublich leid, Kaya..." Kennt ihr dieses Gefühl, wenn man glaubt, sein eigenes Ende erreicht zu haben? Kennt ihr das Gefühl, wenn sich etwas in euch eingenistet hat, was euch die ganze Lebenskraft- und freude raubt? Wisst ihr, wie es sich anfühlt, wenn alles in einem zerbricht, allem voran die Hoffnung, der Lebenswille, das Herz? Wisst ihr, wie es ist, wenn man innerlich zerfleischt wird, man jedoch keine Möglichkeit hat, sich auf irgendeine Weise zu äußern oder gar zu fühlen, weil man wie betäubt ist? Wie es ist, komplett allein zu sein? So fühlt es sich an, nicht mehr zu leben, sondern nur noch zu existieren.
Mir wurde heiß, kalt und schlecht zugleich, alles wurde schwarz und die Welt drehte sich langsamer und in alle verschiedenen Richtungen. Das letzte was ich hörte, war wie meine Schwester zu Boden ging und meine Tante hilflos nach der Nachbarin schrie. Danach sackte ich selbst zu Boden, jedoch wurde ich nicht bewusstlos, sondern hatte auf ein mal das Gefühl zu sterben. Ich verspürte noch nie in meinem Leben so plötzlich eine so krasse Emotion und es war zu viel. Mein gesamter Körper schmerzte und zitterte und ich bekam schreckliche Halluzinationen, die wie aus anderen Dimensionen stammten. Egal wie viel ich blinzelte, es wurde nicht besser. Vielleicht wollte ich an dieser Stelle sogar sterben, da ich den physischen und psychischen Schmerz nicht ertragen konnte. Ab diesem Tag ging ich jeden Abend in der Hoffnung schlafen, nicht mehr aufzuwachen.
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Please (don't) Save me.
Teen Fiction17 Jahre alt, durchschnittliche Schülerin, nicht gerade beliebt, äußerlich ein unscheinbares Mädchen, innerlich von Depressionen und Schuldgefühlen zerfressen. Dieser Satz beschreibt Kaya wohl am Besten. Ärzte und Psychiater kommen für sie nicht in...