Erzählung 98

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„Ich bin Oberkommissar Theil. Mein Kollege meinte sie wollten ihre Entführung melden." „Ja", antwortete Chris. Ich blickte nur auf meine Hände und wusste selbst nicht so genau was mit mir los war. Ich hatte einfach ein ungutes Gefühl, doch ich wollte es verdrängen. Es gab keinen Grund zu zweifeln. Wir waren bei der Polizei, die uns helfen und Eva festnehmen würde. Nun würde alles gut werden. Doch das Gefühl verschwand einfach nicht. Ich blickte hoch, als ich hörte wie eine Schublade aufgezogen wurde. Unser Gegenüber holte einen Stift und einen Block heraus und begann etwas zu notieren. „Wie sind Ihre Namen?", fragte der Kommissar. „Andreas und Christian Reinelt", sagte Chris. Der Beamte stockte und blickte zu uns auf. „Die beiden Brüder aus Bünde, die vor sechs Monaten verschwanden?" Nun schaffte ich es auch mal etwas zu sagen und bejahte nickend. Der Beamte nickte ebenfalls und begann wieder auf seinem Block zu schreiben. „Und Sie wurden die ganze Zeit über festgehalten?" „Ja", antwortete ich erneut. „Okay. Haben Sie irgendwelche Verletzungen, die akut behandelt werden müssten?" „Nein. Nur ältere", antwortete Chris und ich legte unwillkürlich meine rechte Hand an meine linke Seite, wo sich eine der größten verkohlten Stellen befand. Die Erinnerung an diesen Tag drohte hervorzukommen, doch ich schob sie schnell wieder weg und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt. „Gut. Ich werde einen Arzt benachrichtigen, der sich ihre Wunden anschaut, sobald wir hier fertig sind. Ich kann mir vorstellen, dass das nun hart ist, aber sie müssen so gut wie möglich meine Fragen beantworten. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?" Wir nickten zeitgleich, auch wenn ich mir nicht so sicher war ob das auch stimmte. Aber es musste sein. Eva musste für das was sie uns angetan hatte bestraft werden. Sie hatte unsere Abwesenheit bestimmt schon bemerkt und ahnte vermutlich auch wer uns geholfen hatte. Und dann war sie bestimmt schon dabei abzuhauen. „Okay. Wissen Sie wo man Sie festgehalten hat?" „Nicht genau. Es war ein Haus mitten im Wald mit einer großen, alten Scheune dahinter. Aber David weiß wo es ist." „Wer ist David?" „Der Mann, der mit uns hergekommen ist. Er hat uns geholfen zu fliehen." Ich bewunderte Chris dafür, dass er so ruhig und gefasst antwortete. „Alles klar. Wir werden sofort einen Streifenwagen hinschicken. Wer hat Sie denn festgehalten?" Nun meldete ich mich zu Wort. „Sie heißt Eva. Nachname weiß ich nicht. Sie war, beziehungsweise ist, ein Fan von uns. Sie meinte sie hätte sich Sorgen gemacht und wollte sich um uns kümmern." Meine Stimme wurde zum Ende hin immer leiser und ich blickte auf meine Finger, die ich wieder miteinander verknotete. Die Bilder von dem Gespräch damals, bei dem sie uns genau das gesagt hatte kamen hoch und ich musste einen Kloß in meinem Hals herunterschlucken. „Die nächste Frage ist vermutlich hart, aber versuchen Sie einfach so gut wie möglich zu antworten." Er machte eine ganz kurze Pause und wartete auf unsere Reaktion. Ich knetete einfach weiter meine Hände. „Können Sie beschreiben was Ihnen in den Monaten passiert ist?" Ich stoppte meine Bewegungen. Das war der Punkt gewesen vor dem ich mich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Wir waren gerade entkommen und nun sollten wir alles noch einmal durchleben? Das konnte ich nicht. Ängstlich blickte ich zu meinem Bruder. Der hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Dann hob er den Kopf und erwiderte meinen Blick. Er schien zu verstehen was in mir vorging, denn er nickte, griff nach meiner Hand und begann zu erzählen. Er berichtete von dem Loch im Boden in dem wir die erste Zeit verbracht hatten, von unserer ersten Flucht, von der Folter, von unserem Zimmer bis zum jetzigen Zeitpunkt. Der Beamte schwieg, nickte zwischendurch und notierte sich etwas auf seinem Block. Ich schloss immer wieder die Augen, doch öffnete sie schnell wieder, wenn die Bilder zu Chris' Worten auftauchten. So gut es ging versuchte ich seine Stimme auszublenden, doch es gelang nicht. Jedes Mal, wenn Chris die Folter beschrieb spürte ich die Schmerzen der dazugehörigen Narben als wären sie mir gerade erst zugefügt worden. Ich war unendlich froh, als Chris fertig war. Kurz war es still. Der Beamte schien das Gehörte selbst erst einmal verdauen zu müssen. Verständlich. So eine Geschichte hörte man selbst als Polizist wohl nicht so oft. Nach einiger Zeit schluckte er und sagte: „Danke. Ich denke das wäre dann auch erstmal alles." „Können wir nun nach Hause? Zu unserer Familie?", fragte ich hoffnungsvoll. Ich wollte nicht noch länger warten. „Natürlich. Direkt nachdem unser Arzt sie durchgecheckt hat bringen wir Sie zu Ihnen. Sie werden allerdings nochmal mit den Beamten der Polizeistelle in Ihrer Nähe reden müssen, die Ihren Fall bearbeiten." „Okay. Ich will einfach nur meine Frau und meine Kinder in den Arm nehmen." „Verständlich. Warten Sie hier. Ich hole einen Kollegen, der sie zu unserem Arzt bringt. Es wird auch nicht sehr lange dauern. Aber wir können es Ihnen auch nicht ersparen." „In Ordnung", meinte ich und Chris nickte zustimmend. Der Beamte lächelte uns leicht zu, nickte und stand auf. „Es dauert nur einen Moment." Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich plötzlich wieder eingesperrt. „Kannst du es glauben?", fragte Chris und ich schaute zu ihm. Sein Blick zeigte Freude und Erleichterung. Ich schüttelte den Kopf und meinte: „Nicht so wirklich. Aber ich bin einfach nur überglücklich." Ein breites Lächeln schlich sich auf mein Gesicht und wie auf Kommando standen Chris und ich auf und fielen uns in die Arme. Nur noch wenige Stunden und ich würde meine Familie wieder im Arm halten. Erneut flossen mir Tränen die Wangen herunter, doch es war in Ordnung. Es waren Tränen der Freude und des Drucks, der von mir abfiel. Ich konnte unser Glück nicht fassen. Die Hoffnung hier zu stehen und frei zu sein hatte ich schon lange aufgegeben gehabt. Vor allem, dass ich zusammen mit meinem Bruder hier sein würde. Wir standen da, umarmten uns schweigend und lösten uns erst als es an der Tür klopfte und sie sich öffnete.

Ihr. Entkommt. Nicht!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt