Kapitel 3

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Lorelei

Der kalte Wind fegte durch die Straßen von Aphillia und ich zog meinen Umhang noch enger um mich. Die Hauptstadt mochte zwar klein sein, aber sie war immer voller Leben. Ob am Tag oder in der Nacht, zu jeder Zeit gab es etwas zu sehen, zu hören oder zu unternehmen. Doch heute Nacht war die Innenstadt nicht gefüllt mit Musik und Gelächter, sondern mit Krach und Gezeter. Und je näher ich dem Stadtplatz kam, desto schlimmer wurde es.

Der Stadtplatz war einer meiner Lieblingsorte in Aphillia. Der große, runde Platz war mit einer Vielzahl an Laternen geschmückt und in seiner Mitte stand das Schmuckstück der Stadt – ein großer Springbrunnen, in der Form eines kahlen Baumes. Aus den vielen verzweigten Ästen floss klares Wasser in das runde Becken darunter. Es war atemberaubend.

Heute war der Platz gefüllt mit Menschen, die sich gegenseitig anschrien. Noch nie in meinen achtzehn Jahren hatte ich so ein Chaos gesehen.

Ich erblickte den Bürgermeister nur wenige Schritte von mir entfernt. Er versuchte vergeblich die Menschen um ihn herum zu beruhigen. Sein Gesichtsausdruck, als er mich erblickte, war fast lachhaft. Seine Augen weiteten sich und er grinste mich schräg an.

„Prinzessin!" rief er, während er sich zu mir durchkämpfte, „dem Himmel sei Dank, Ihr seid wohlauf. Die Bürger sind wahnsinnig geworden und ich bin kurz davor ihnen zu folgen!"

Er nahm ein paar tiefe Atemzüge bevor er fortfuhr.

„Ich weiß nicht mehr weiter. Bitte, könntet Ihr vielleicht versuchen die Leute etwas zu beruhigen?"

Wir wussten beide, dass die Zeit für mich noch nicht gekommen war. Doch mir war klar, dass ich wohl, in dieser Situation, eine der wenigen Personen war, auf die die Bürger hören würden. Ich hatte eigentlich keine Wahl.

Ich stellte mich auf eine Bank und bat um Aufmerksamkeit. Ich wünschte ich könnte sagen, dass die Leute mir sofort zugehört hatten. In Wahrheit musste ich für eine ganze Weile rufen und wie eine Verrückte winken, damit mir jemand zuhörte. Als ich letztendlich alle Aufmerksamkeit auf mich gezogen hatte fing ich an laut und deutlich zu sprechen.

„Bürger von Aphillia, bitte, verfallt nicht weiter in Panik. Ein Erdbeben hat die Stadt erschüttert, doch lasst uns Ruhe bewahren und uns gemeinsam dieser Herausforderung stellen. Ich möchte alle Verletzten sowie die Ärzte und Krankenpfleger bitten, sich im Rathaus zu versammeln. Alle anderen, bitte kehrt zurück in eure Häuser und versucht noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Nach Sonnenaufgang werden wir uns den Schäden widmen."

Sobald ich meine kurze Rede beendet hatte, fingen schon viele Bürger an den Platz zu verlassen. Es gab allerdings noch einige, die sich weigerten den Stadtplatz zu verlassen. Sie beschwerten sich noch lautstark, doch wenigstens waren sie nicht mehr panisch. Ich seufzte erleichtert. Soviel zu meiner allerersten Rede.

„So", sagte der Bürgermeister plötzlich, „das lief besser als erwartet. Vielen Dank, Prinzessin. Wenn Ihr mich nun entschuldigt, ich werde die Bürger im Rathaus empfangen." Er verbeugte sich leicht und ging davon.

Ich fand es mittlerweile einfach, meinen Titel zu vergessen. So lange war ich nun schon auf der Reise.

In der Königsfamilie von Maera war das eine der ältesten Traditionen. Jeder Thronfolger sollte, ab dem Tag seiner Volljährigkeit, ein Jahr außerhalb des Schlosses leben. Ich hatte jetzt noch ganze zwei Monate, bis ich zurück ins Schloss ziehen würde. Warum hatte ich jetzt das Gefühl, dass es nicht so ablaufen würde?

Ich folgte dem Bürgermeister zum Rathaus und war glücklich zu sehen, dass viele Bürger meiner Bitte gefolgt waren. Es schien so, als würde es, zum Glück, keine schweren Verletzungen geben, hauptsächlich Prellungen und Schnittwunden.

Eine Krankenpflegerin kam auf mich zu. „Prinzessin, seid Ihr auch verletzt?" fragte sie höflich.

Ich hätte eigentlich nicht überrascht sein sollen, dass mir diese Frage hier gestellt werden würde. Doch ich war so in die Situation vertieft gewesen, dass ich darüber gar nicht nachgedacht hatte.

„Oh, also, ich glaube nicht. Allerdings bin ich vorhin die Treppen hinuntergefallen." Ich schaute an mir herunter und fragte mich zum ersten Mal, ob ich mich verletzt haben könnte.

„Möchtet Ihr, dass ich einen Blick darauf werfe?" fragte sie daraufhin.

Ich sah mich um und sah, dass alle anderen schon versorgt waren, also nahm ich ihr Angebot an. Wir stellten fest, dass ich einige Prellungen an meinen Beinen und Armen hatte. Ansonsten war alles in Ordnung.

Als sie mit der Behandlung fertig war, dankte ich ihr und ging, nachdem ich mich schnell vom Bürgermeister verabschiedet hatte, zurück zum Gasthaus. Als ich eintrat, sah ich, dass Madeleine alle Scherben und kaputtes Mobiliar auf einen Haufen gelegt hatte. Da ich sie nirgends sehen konnte, ging ich hoch in mein Zimmer. Ich ließ meinen Umhang auf den Boden fallen und kuschelte mich ins Bett. Mein Hirn lief auf Hochtouren. Mir schwirrten hunderte von Fragen im Kopf herum, die ich nicht beantworten konnte.

Warum gab es urplötzlich ein Erdbeben in Aphillia?

Hatte es nur hier stattgefunden, oder hat es in ganz Maera gebebt?

Wie fängt so etwas überhaupt an?

Wird es noch eins geben? Warum? Was können wir dagegen tun?

Wenn ich nun ins Schloss zurückkehren müsste, dürfte ich meine Reise anschließend noch beenden?

Hoffentlich...

Ich hatte keine Ahnung wie, aber irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Als ich aufwachte war es schon später Morgen. Nach einem schnellen Frühstück beeilte ich mich zum Stadtplatz. Die Menschen waren alle schon dabei aufzuräumen und zu reparieren. Es war chaotisch, aber ein gutes Chaos im Gegensatz zu letzter Nacht. Die Bürger waren wieder sie selbst.

Ich hatte gerade angefangen nach dem Bürgermeister zu suchen, als sich plötzlich ein lauter Schrei durch die Menge zog. Dieser war gefolgt von noch mehr Schreien und auf einmal war es wieder wie letzte Nacht. Die schrillen Rufe kamen aus der Nähe der Stadttore. Massen strömten in den Stadtplatz und ich kämpfte mich verzweifelt hindurch, um zu sehen was passiert war. Ich kam gerade weit genug, um den Eingang zu sehen oder besser gesagt, wer hindurch kam.

Der Strom des Lebens I [Gespaltene Welten]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt