Ich blinzele mehrmals um mich aus der Erinnerung zu holen. „Es ist schwer zu beschreiben was genau damals in mir vorging“, sage ich und blicke zu Frau Steiner. Sie sitzt nach vorne gebeugt da, ihre Ellbogen auf den Knien abgestützt, die Hände mit den Handflächen aneinandergelegt. Ihr Kinn ruht auf ihren Daumen, die restlichen Finger befinden sich vor ihrem Mund. Sie sieht aus als würde sie nachdenken, doch ihr Blick zeigt mit wie viel Spannung sie meinen Erzählungen folgt. Kurz wundere ich mich. Ich weiß sie kennt alle Einzelheiten unserer Befreiung. Zum einen aus den Polizeiakten, die sie mit meiner Einwilligung erhalten hat und aus einzelnen Berichten meinerseits. Aber es im Zusammenhang zu hören ist vermutlich nochmal was anderes. „Versuchen Sie es“, sagt meine Psychologin ohne ihre Position zu verändern. Ich überlege kurz und drehe meinen Kopf nach vorne, bevor ich weiterrede. „Ich denke dieses Gefühl lässt sich von jemanden, der noch nie länger auf seine Freiheit verzichten musste, nur schwer nachvollziehen. Ich denke am besten lässt es sich so beschreiben: Hatten Sie als Kind schonmal Hausarrest? Oder durften nicht raus, obwohl Sie unbedingt wollten?“ Ich warte nicht auf eine Antwort, sondern rede einfach weiter. „Es ist schrecklich. Man hat das Gefühl man wird von der Welt abgeschnitten. Als Kind ist sowas natürlich hochdramatisch. Man fühlt sich von den Eltern verraten. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Hausarrest als Kind und meiner Situation. Wenn man damals Hausarrest bekam gab es einen Grund. Man wusste die Eltern machten das nicht einfach so, sondern um uns zu bestrafen. Doch bei uns gab es sowas nicht. Wir wussten nicht was wir falsch gemacht hatten, damit wir sowas verdienten. Und irgendwann hatte ich ja auch angefangen die Schuld bei mir zu suchen, denn ich glaube so ticken wir Menschen einfach. Wir brauchen einen Grund. Etwas mit dem wir eine Situation oder ein Ereignis erklären können. Und nun stellen Sie sich vor sie haben eine Erklärung für eine unangenehme Situation für sich gefunden, haben sich damit abgefunden und dann gibt es plötzlich keinen Grund mehr an dieser Erklärung festzuhalten und sich damit selbst zu schützen. Stellen Sie sich vor Sie werden plötzlich mit einer Situation konfrontiert, die Ihnen zeigt, dass sie keine Schuld tragen. Ein Stück weit bricht ein Teil ihrer Welt zusammen, doch gleichzeitig fällt Ihnen ein Stein vom Herzen. Wobei ich es eher beschreiben würde als würden schwere Ketten, die um mein Herz gelegt waren, abfallen. Ich fühlte mich als könnte ich das erste Mal seit langem wieder frei atmen. Und doch spürte ich noch einen Funken Angst. Ich weiß nicht genau ob es wirklich die Angst war wieder zu Eva zu müssen oder die Angst vor der Zukunft. Vielleicht auch beides. Doch ich wollte sie verdrängen und mich nur auf die Freiheit konzentrieren. Innerlich fühlte ich mich leicht, doch die Erlebnisse zerrten an meinem Körper.“ Kurz muss ich auflachen. „Irgendwie machte nichts einen Sinn. Gerade wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Von dem Moment, in dem wir in Davids Auto stiegen bis zur Polizeistation funktionierte ich eigentlich nur.“ Ich drehe meinen Kopf wieder zu Frau Steiner. Diese nickt und lehnt sich nach hinten. Ihre Hände faltet sie in ihrem Schoß. „Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Ich hatte schon viele Klienten, die mir von Erlebnissen oder ihren Gefühlen erzählt haben, in denen sie sich frei fühlten. Doch trotzdem kann ich nur erahnen wie es ihnen ergangen sein muss.“ „Alles andere hätte ich Ihnen vermutlich auch nicht geglaubt.“ Ich lächle sie kurz an und versinke dann wieder in meinen Gedanken. Noch ist meine Geschichte nicht zu Ende und den Rest will ich auch noch hinter mich bringen. Es ist schwer über alles zu reden ohne zusammenzubrechen, doch ich weiß es heißt, dass ich langsam alles verarbeite. Frau Steiner hat mir am Anfang viel über Trauma und den Verlauf einer posttraumatischen Belastungsstörung erzählt. Ein Satz ist mir dabei besonders in Erinnerung geblieben: Wenn jemand unter einem Trauma leidet ist es unwahrscheinlich das er darüber redet. Redet er darüber heißt das, dass er das Erlebnis weitestgehend verarbeitet und in seinen Alltag integriert hat. Und genau deshalb will ich es hinter mich bringen. Ob es unbedingt gut ist mich zu zwingen? Keine Ahnung, aber versuchen kann man es ja. Und immerhin ging ich nun seit fast zwei Jahren regelmäßig zu Frau Steiner. „Möchten Sie weiter machen?“, unterbricht sie meine Gedanken und ich nicke.
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Ihr. Entkommt. Nicht!
FanfictionEntführung, Gefangenschaft, Folter. Jeder hat bei diesen Worten Bilder aus Filmen oder Büchern im Kopf. Aber wer rechnet schon damit soetwas selbst zu erleben? Wohl keiner. Genauso wenig wie die beiden Magierbrüder Chris und Andreas. Doch plötzlich...